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Calais Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Frontex in Calais (2)

Tweet von Frontex: Verhindern, dass sich Menschen in Lebensgefahr begeben? (Quelle: Frontex / Twitter)

Eines der wenigen konkreten Ergebnisse des europäischen Ministertreffens nach der verheerenden Havarie vom 24. November war die Entsendung eines militärischen Aufklärungsflugzeugs der europäische Grenzschutzagentur Frontex nach Lille mit dem Auftrag, die Küste vor der Calaiser Region zu überwachen. Ob die ersten Einsätze Symbolpolitik waren, aufgrund der kurzfristigen Verlegung ohne ausreichende Kenntnis des modus operandi der Bootspassagen erfolgten oder der Vorbereitung späterer Einsätze dienten, bleibt spekulativ.

Verändertes Einsatzprofil

Einen knappen Monat nach der Entsendung des mit Wärmebildkameras ausgerüsteten Flugzeugs ist das Einsatzprofil jedenfalls angepasst worden. Es scheint nun die Verhinderung von Bootspassagen durch Sicherheitskräfte am Boden durch Nachtflüge zu unterstützen, und operiert – noch vereinzelt – auch über dem Meer. Nach nur sieben mit dem neuen Muster absolvierten Flügen, zeichnet sich allerdings auch für den Einsatz des Aufklärungsflugzeugs im Kontext der Bootspassagen die problematische Folge ab, die grundsätzlich mit dem Versuch einhergeht, Menschenleben durch repressive Maßnahmen zur Migrationsverhinderung zu retten: das Ausweichen auf weniger überwachte, aber gefährlichere Migrationsrouten.

Nach den von uns bereits dokumentierten ersten beiden Einsätzen am 3. und 6. Dezember hat Frontex in der Region inzwischen neun weitere Einsätze geflogen – am 7., 9., 11., 13., 15., 16., 20., 22. und 23. Dezember. Wir stützen unsere Auswertung auf die Datenbank adbs-b.nl.

Als Operationsraum hat sich der bereits am 6. Dezember überflogene Küstenabschnitt von der Küste vor Brügge in Belgien im Nordosten bis zur Mündungsbucht der Somme im Südwesten verfestigt, der bei allen Einsätzen mehr oder weniger abgedeckt wurde – mit Ausnahme des 16. Dezembers, an dem der südwestliche Küstenabschnitt bis Boulogne ausgespart geblieben ist.

Passagen verhindert

Visualisierung des Überwachungsflugs vom 15. Dezember 2021 bei adbs-b.nl

Während die Einsätze am 7. und 9. 12. wie die ersten beiden Einsätze tagsüber stattfanden, und somit für die Verhinderung von Bootspassagen und Unterstützung der Seenotrettung ungeeignet waren, fanden mit Ausnahme des 15. 12. alle weiteren Einsätze nachts statt. In der Regel startet das Flugzeug kurz vor vier Uhr morgens und beendet seinen Einsatz zwischen neun und zehn Uhr. Die einzelnen Flüge weisen dabei Besonderheiten auf:

  • Am 11. 12. wurde das Meer vor Belgien überflogen,
  • am 13. 12. kreiste das Flugzeug über Calais,
  • am 15. 12. startete es erst um halb acht morgens und überflog zwischen Dunkerque und Calais das Meer – nach Angaben von La Voix du Nord wurden dabei 125 Personen an einer Überfahrt nach Großbritannien gehindert,
  • am 16. 12. wurde der Strand vor Grand-Synthe und Dunkerque intensiv überwacht, vor Calais überflog das Flugzeug das Meer – die französische Police Nationale gibt in einem Tweet an, dass dabei 20 Exilierte entdeckt und an dem Versuch einer Passage nach Großbritannien gehindert wurden.
  • Am 21. 12. fand der bisher längste Flug statt. Das Flugzeug startete bereits um 19:32 und blieb bis 3:10 am Folgetag im Einsatz. Dabei wurden die Strandgebiete der niederländisch-belgischen Grenze vor Koksijde, Verne und Niewpoort überwacht – eine Ausweitung des Operationsraums nach Nordosten. Vor Calais und vor Berck (nahe der südwestlichen Grenze des Überwachungsraums) wurde das Meer überflogen.
  • Am 23. 12. wurde die Ausweitung des Operationsraums bis fast an die belgisch-niederländische Grenze wiederholt.

Vorläufig kein Game-Changer

Es zeichnet sich ab, dass mit dem Frontex-Einsatz Bootspassagen verhindert werden sollen, indem das Ablegen der Boote frühzeitig erkannt und von Sicherheitskräften am Boden unterbunden wird. Die Verlegung auf Nachtflüge und damit einen Zeitraum, in dem die Passagen tatsächlich stattfinden, deutet darauf hin, dass das Einsatzprofil für dieses Missionsziel angepasst wurde. Dass dies laut Darstellung von Frontex und der französischen Polizei bisher nur an zwei Tagen gelungen ist, zeigt, dass der Einsatz des Flugzeugs (noch) keinen Game-Changer für die Unterbindung von Abfahrten an einer langen und schwer zu überwachenden Küste darstellt. Unter den „Erfolgsmeldungen“ der französischen Polizei in den sozialen Medien über verhinderte Abfahrten wird nur bei einem Bruchteil auf Frontex verwiesen oder ist ein zeitlicher und örtlicher Zusammenhang mit den dokumentierten Flügen erkennbar.

Zur Rettung von Menschen, die bereits in Seenot geraten sind, scheint das Flugzeug nach wie vor keinen Beitrag zu leisten. Die über dem Meer absolvierten Flugrouten sind minimal und allesamt küstennah – vor allem ist noch keine durch Frontex vermittelte Rettung aus Seenot bekannt. Es ist schwer vorstellbar, dass der französische Innenminister, auf dessen Initiative das Ministertreffen stattfand, im Kontext des laufenden Präsidentschaftswahlmapfes, auf die öffentliche Bekanntmachung eines solchen Erfolges verzichtet haben soll.

Visualisierung des Überwachungsflugs vom 16. Dezember 2021 bei adbs-b.nl

Zeitliches und räumliches Ausweichen

Bei der Bewertung des Frontex-Einsatzes auf der französischen Seite des Ärmelkanals ist zum einen zu beachten, dass man nicht davon ausgehen kann, dass zu dem als Reaktion auf die Havarie kurzfristig einberufenen Ministertreffens bereits ein fertiger Einsatzplan auf dem Tisch lag. Einsatzziele und Einsatzprofil werden sich in den nächsten Wochen und Monaten weiterentwickeln. Zum anderen muss man in Betracht ziehen, dass im polizeilichen und militärischen Kontext unter Umständen Ergebnisse von Operationen aus einsatztaktischen Gründen geheim gehalten werden. Unerkannte Einsätze des Flugzeugs, das der dänischen Luftwaffe angehört, sind technisch möglich und denkbar, wenn auch wegen der damit verbundenen Risiken in einem dicht beflogenen Luftraum unwahrscheinlich. Schon wahrscheinlicher ist, dass nicht alle Erkenntnisse und Beobachtungen, die von Frontex gemacht werden, veröffentlicht werden, sondern vor allem die schnellen Erfolge, die den politischen Einsatzbeschluss untermauern können.

Visualisierung des Überwachungsflugs vom 22. Dezember 2021 bei adbs-b.nl

Nicht zuletzt muss Frontex der Herausforderung begegnen, dass der zeitliche und räumliche Rahmen des Überwachungseinsatzes bekannt wird und in den Planungen von Exilierten wie Schleuser_innen in Form von geänderten Abfahrtzeiten Berücksichtigung findet. Frontex hat also ein Interesse daran, erkennbare Muster in den Einsätzen immer wieder zu durchbrechen oder anzupassen. Trotz Wärmebildkameras, Infrarotsensoren und hochauflösender Optik besitzt das Flugzeug nicht die Fähigkeit, die Küste zeitlich und räumlich umfassend zu überwachen.

Inwieweit sich die wechselseitige Anpassung von Einsatzzeiten und Abfahrtzeiten als ein Rennen zwischen Hase und Igel herausstellt, bleibt abzuwarten; eine gefährliche Dynamik dürfte sich mit der weiteren räumlichen Differenzierung der Abfahrtsorte entwickeln: hin zu längeren und riskanteren Routen über See.

Zwei Indizien, dass dies nicht nur ein hypothetisches Problem darstellt ist die detaillierte Überwachung des Küstenabschnitts vor der rund 80 Kilometer von Calais entfernten Stadt Berck und die Berichte des Weltspiegel über aktuelle Verlagerungen der Abfahrten nach Belgien und die besondere Gefährlichkeit, die sich aus ihnen ergeben.