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Calais

Politik der gepflügten Erde

Gelände des Camps Old Lidl nach dem Umpflügen am 4. März 2022. (Foto: Utopia 56 / Twitter)

Das unter dem Namen Old Lidl bekannte Camp an der Stadtgrenze von Calais und Marck wird immer stärker unter Druck gesetzt. Am 4. März 2022 veränderten die Behörden die Topographie des Siedlungsplatzes auf brachiale Weise, indem sie den Boden umpflügten. Die Maßnahme reiht sich in eine Reihe ähnlicher Umweltveränderungen ein, die wir in Calais und Grande-Synthe seit einigen Jahren beobachten konnten und die auf den Entzug räumlicher Ressourcen und die Schaffung einer lebensfeindlichen Umgebung abzielen (siehe etwa hier, hier, hier und hier). Im konkreten Fall erhöht sie außerdem die Gefahr von Unfällen, weil sie Geflüchtete dazu drängt, ihre Fußwege auf eine vorbeiführende Bahntrasse zu verlegen. Vier Tage vor dem Pflügen starb genau auf diesem Gleis Aboubakar, ein sudanesischer Bewohner des Camps (siehe hier).

Die im November 2022 angelegte Sperre des Old Lidl-Geländes. (Quelle: Calais Food Collective / Twitter)

Bereits dieser Todesfall hing mit einer physischen Veränderung des Geländes zusammen: Im vergangenen Herbst hatten die Behörden den Hauptzugang durch einen Erdwall, Steinbrocken und einen Graben unbefahrbar gemacht (siehe hier). Aboubakar war, so das Calais Food Collective, über die Bahntrasse gegangen, um diese Sperre zum umgehen. „In diesem Moment fuhr ein Zug vorbei […] Die Personen, die am Ort des Geschehens lebten, waren bei allem dabei. Ich habe keine Worte, die stark genug sind, um den Schrecken der Ereignisse zu erklären.“ Hierzu gehörte nach Angabe der Aktivist_innen beispielsweise, dass herumliegende Leichenteile gefunden wurden, aber keinerlei psychologische Hilfe für die Menschen eingerichtet wurde, „denen die Politiker ein weiteres Trauma aufgebürdet hatten.“

Räumung auf dem Old Lidl-Gelände, im Hintergrund das Gewerbegebiet Transmarck. (Video: Human Rights Observers)

Stattdessen war das Old Lidl-Gelände am 3. März Schauplatz einer Räumung, die formal der freiwilligen Unterbringung der Bewohner_innen in Aufnahmezentren (CAES) in Distanz zur Grenze diente. Die Human Rights Observers klassifizierten die Operation als Zwangsmaßnahme und wiesen auf „Einschüchterung durch die übergroße Präsenz des Polizeikonvois und der PAF [französische Grenzpolizei], Sicherheitsabtastungen, Einkreisung und Beschlagnahmung von Sachen“ hin. Das Umpflügen des Geländes folgte am Tag nach der Räumung, sodass die Zurückkehrenden eine prekärere Situation als zuvor vorfinden werden.

Das mit dem Pflug zerstörte Gelände früher: Treffpunkt und Fußballfeld. (Foto: Utopia 56 / Twitter)

Die auf dem Gelände ebenfalls tätige Organisation Utopia 56 merkt an, dass das Umpfligen des Bodens zugleich einen der letzten Plätze unbrauchbar gemacht habe, der von den freiwilligen Helfer_innen als Anlaufstelle genutzt werden konnte und auf dem die Exilierten außerdem etwas Erholung durch Fußball finden konnten – eine für das psychische Überleben in der Calaiser Extremsituation unendlich wertvolle Sache.