Die Familie und Freund_innen von Abubaker, der am 28. Februar in der Nähe des Camps Old Lidl an der Grenze Calais‘ zu seiner Nachbargemeinde Marck von einem Zug erfasst und tödlich verletzt worden ist, haben sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt, die wir hier in eigener Übersetzung veröffentlichen.
FÜR ABUBAKAR
Calais, den 7. [März]* 2022
Abubakar ist am vergangenen Montag, den 28. Februar gestorben. Er war ein junger sudanesischer Mann von 26 Jahren, gradlinig, aufmerksam und großzügig. Ein junger Mann, der sich hier in Calais demütig darum kümmerte, seine Freunde bestmöglich unterzubringen und ihren schrecklichen Alltag zu lindern. Ein junger Mann, der gestorben ist, während er die Habseligkeiten eines Neuankömmlings trug und ihm half, sich an einem provisorischen Siedlungsplatz niederzulassen. Abubaker lebte mit einem seiner Brüder seit fast sechs Monaten in Calais mit dem Ziel, das Vereinigte Königreich zu erreichen.
Er wäre gerne in Frankreich geblieben. Abubaker hat in Nantes gemeinsam mit einem anderen seiner Brüder Asyl beantragt, aber fand sich aufgrund der Dublin-Regeln in einem administrativen Schwebezustand wieder. In Calais überlebte Abubaker wie viele andere an einem Siedlungsplatz, der «Old Lidl» genannt wird, zwischen den polizeilichen Räumungen alle 48 Stunden, der Beschlagnahmung von persönlichen Gegenständen, der Kälte und dem unzureichenden Zugang zu Wasser, Duschen und Mahlzeiten.
Abubaker starb, als er von einem Zug angefahren wurde, dessen Gleise neben dem Siedlungsplatz verlaufen. Es gibt an dem Ort kein Schild, das auf die Gefahr eines mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Zuges hinweist, keine Barriere, die die Schienen begrenzt, kein Signal, das vor der Ankunft eines Zuges warnt. Ein Ort, wie anderswo in Calais, wo die Behörden zu glauben scheinen, dass das Leben von Exilierten nicht schützenswert sei.
Abubakers Tod hätte vermieden werden können. Er könnte immer noch bei seiner Familie und seinen Freunden sein. Die Politik, die exilierte Menschen in Frankreich nicht aufnimmt, die Menschen daran hindert, in Frankreich Asyl zu suchen, und die in Calais die Form von täglicher Schikane von exilierten Menschen annimmt – eine Jagd, die sie dazu treibt, sich in die Lücken neben den Bahngleisen zu flüchten –, diese Politik ist tödlich.
Aber die Gewalt gegen die Exilierten, hört nicht auf, wenn einer von ihnen nicht mehr atmet. Abubakers Tod war äußerst gewaltsam. Mehr als hundert Exilierte, darunter seine Freunde, mussten den Unfall mit ansehen, sahen seine Leiche, bevor die Polizei eintraf, und was danach von ihr übrig war. Der Ort wurde nicht gereinigt und bis zum Tag nach dem Unfall waren dort sein Blut und andere sterbliche Überreste zu sehen. Seine Freunde und seine Brüder mussten sich darum kümmern, das zu bedecken, was von ihm übrig war.
Den Exilierten wurde nach diesem traumatischen Ereignis keine Ruhepause gewährt. Die Räumungen wurden an den folgenden Tagen in ihrem üblichen Turnus fortgesetzt, einem hektischen Turnus, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, als wäre nichts gewesen, als wäre nicht kurz zuvor ein Mensch gestorben. Dann wurde die repressive Logik verdoppelt: „Ist der Ort gefährlich? Bringen wir die Menschen, die dort leben, gewaltsam mit Bussen in ferne Städte, und pflügen den Untergrund um, um eine Neuansiedlung zu verhindern.“ [siehe auch hier]
Diese repressive Logik treibt im Gegenteil die Menschen dazu, sich noch mehr zu verstecken, zu versuchen, an noch gefährlicheren Orten zu überleben, sie drängt die Menschen noch stärker nach England, auch wenn die Passage über diese Grenze ebenso tödlich ist.
Zu keinem Zeitpunkt kamen die staatlichen Stellen, um sich direkt nach dem Gesundheitszustand der Personen zu erkundigen, die Zeugen des Unfalls geworden sind, sie versuchten nicht, der Familie ihr Beileid auszusprechen, haben sich nicht versichert, ob sich jemand um sie kümmert. Zu keinem Zeitpunkt setzte ein wirkliches Nachdenken ein, wie solche Tragödien verhindert werden können, wie Menschen würdevoll in Frankreich aufgenommen und nach ihren Wünschen untergebracht werden können.
Für Abubaker, für die mindestens 348 Menschen, die seit 1999 an dieser Grenze gestorben sind, und für alle Menschen, die weiterhin in Calais leben: es ist dringend notwendig, Konsequenzen aus dieser Tragödie zu ziehen und exilierte Menschen wirklich zu schützen.
* im französischsprachigen Original irrtümlich auf den 7. Februar datiert