Siedlungen Exilierter bei Calais und Grande-Synthe
In diesem Beitrag werden wir zwei Jungles vergleichend beschreiben, einen in der Nähe von Calais und einen in der Nähe von Grande-Synthe – eine geographische Zuordnung, die ihre Lage in den kommunalen Verwaltungsgebieten nur grob beschreibt.
Grundlage dieses Vergleiches sind Beobachtungen vor Ort, die wir am 15. März am Siedlungsplatz Old Lidl und am 16. März in der Siedlung in Loon-Plage / Dunkerque gemacht haben, sowie Hintergrundgespräche mit Exilierten und verschiedenen Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Außerdem eine beobachtete Räumung am 16. März in der Nähe des Calaiser Krankenhauses, ergänzt durch Ergebnisse aus früheren Recherchen, Gesprächen und Aufenthalten vor Ort.
Old Lidl zwischen Calais und Marck
Der Siedlungsplatz „Old Lidl“ – von den Behörden Turquerie genannt – befindet sich auf dem Gebiet der Gemeinde Marck, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Calais. Er liegt zwischen einem Schienenstrang im Norden, sowie diverser LKW-Infrastruktur im Süden und Osten, welche über die Avenue Henri Ravisse an die A16 angebunden ist. Aus Marck ist das Gelände zugänglich von der Avenue Henri Ravisse, aus Calais von einer Kurve, in der die Rue de Normandie in die Rue du Beau Marais übergeht. Dieser Zugang ist durch die Behörden mit einem Erdwall und Findlingen für Kraftfahrzeuge versperrt worden, um die Ausgabe von Essen und Hilfsgütern zu blockieren.
Obwohl das Areal eigentlich weitläufig ist und ursprünglich auf gut einem Drittel seiner Fläche Schutz bietenden Baumbestand aufwies, ist es inzwischen nur noch an den Rändern mit Zelten bewohnbar, da die Behörden die Bäume weitgehend gerodet, und den Boden durch Pflügen für das Aufstellen von Zelten unbrauchbar gemacht haben. An dem an die Schienen grenzenden Teil des Siedlungsplatzes verunglückte am 28. Februar ein 26jähriger Sudanese tödlich. Der in der Erklärung von Familie und Freund_innen Abubakers erwähnte Zwang, „sich in die Lücken neben den Bahngleisen zu flüchten“ ist nicht etwa metaphorisch zu verstehen, sondern entspricht der geschaffenen geographischen Realität dieses Lebensortes.
Eine unmittelbare Versorgung der dort lebenden Menschen durch zivilgesellschaftliche Organisationen ist aufgrund der errichteten Barriere nicht mehr möglich. Die Essensausgabe erfolgt rund einen Kilometer entfernt an der Rue de Judée auf Calaiser Stadtgebiet, wo sich auch die nächstgelegenen Toiletten befinden.
Der Siedlungsplatz ist wie die Siedlungsplätze auf Calaiser Gebiet Räumungen durch die Polizei im Abstand von rund 48 Stunden unterworfen, wobei die Zyklen seit Januar unvorhersehbar geworden sind: manchmal wurde bereits nach 36 Stunden erneut geräumt, während an anderen Tagen bis zu 72 Stunden nach der letzten Räumung vergangen waren. Ebenso wie für die Calaiser Siedlungsplätze werden seit Januar die Räumungen nicht mehr durch die Gendarmerie (begleitet von der Police Nationale) durchgeführt, sondern durch die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) –der martialisch ausgerüsteten französischen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung. Statt wie bisher vier oder fünf werden dabei bis zu 15 Mannschaftswagen eingesetzt, teilweise verstärkt durch Einheiten der Grenzpolizei.
Die Grenzpolizei verhaftet bei den Räumungen anscheinend wahllos Bewohner_innen und verbringt sie in Abschiebehaft in die Centres de rétention administrative (CRA, Abschiebegefängnis). Während unserer Beobachtung am Old Lidl war – ohne dass eine Räumung stattfand – zumindest ein Mannschaftswagen des CRS präsent.
Der Siedlungsplatz am Old Lidl wurde am 18. März Schauplatz einer großangelegten Räumung, bei der die Bewohner_innen nicht wie bei den Räumungen alle 48 Stunden temporär vertrieben und ihre Habseligkeiten unter Umständen beschlagnahmt wurden, sondern 28 von ihnen zwangsweise in Unterkünfte außerhalb von Calais verbracht, sowie zwei Personen in Abschiebehaft genommen wurden.
Grande-Synther Auchan
Etwa 30 Kilometer östlich des Old-Lidl und rund zwei Kilometer entfernt vom Grande-Synther Einkaufszentrum Auchan, befindet sich (allerdings nicht mehr auf dem Stadtgebiet von Grande-Synthe) an der Grenze der Gemeinden Loon-Plage und Dunkerque ein weiterer Lebensort, begrenzt durch einen Abzweig des Canal de Bourbourg im Osten, einem Binnenhafen im Süden, einem Industriebahngleis im Westen und einer Raffinerie im Norden. Die Schnellstraße D601 teilt das Siedlungsareal.
Ähnlich wie am Old-Lidl ist der Zugang zum Siedlungsgebiet – hier durch eine Betonbarriere – versperrt. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen auf eine Straßenkurve ausweichen, um den Bewohner_innen Hilfe zu leisten. Auf dem Terrain scheinen jedoch anders als im Old Lidl keine schikanösen Maßnahmen seitens der Behörden getroffen worden, so dass die Bewohner_innen einen größeren Teil des ebenfalls weitläufigen Areals nutzen können. Ebenso ermöglicht der von den Behörden belassene Baumbewuchs zusätzlichen Sicht- und Witterungsschutz.
Der Siedlungsplatz, von seinen Bewohner_innen auch „Village“ genannt, bietet mehrere – wenn auch sehr prekäre – Einrichtungen zur Daseinsfürsorge. Unter anderem rudimentäre Wasserversorgung, Waschgelegenheiten, sowie kleine irreguläre Läden, ein Friseurgeschäft, ein Teehaus und mehrere Imbissbetriebe, welche von den Bewohner_innen geführt werden. Die Einrichtungen werden in aus Baumstämmen und Zeltplanen errichteten Gebäuden betrieben.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Der auffälligste Unterschied zwischen diesem Siedlungsplatz und dem Old-Lidl ist die Herausbildung einer Dorfstraße, die ein Zentrum sozialen Lebens bildet und entlang derer die genannten Geschäfte errichtet sind. In zweiter Reihe stehen die bewohnten Zelte. Sie verläuft vom Zugang zum Areal im Westen in dessen äußersten Süden parallel zur Schnellstraße D601, die im Osten den Kanal überbrückt. An dieser Stelle besteht ein Zugang zum nördlichen Teil des Siedlungsplatzes, der hauptsächlich aus Zelten besteht, die aber teilweise um Aufenthaltsorte ergänzt sind, und wie die Geschäftsgebäude aus Baumstämmen und Zeltplanen gefertigt wurden.
Die Zusammensetzung der Bewohner_innen unterscheidet sich ebenfalls stark. Während im Old Lidl rund 200 Menschen, anscheinend vor allem junge Männer aus dem Sudan leben, leben auf dem Siedlungssplatz in Dunkerque Menschen unterschiedlicher Herkunft. Unter ihnen Kurd_innen, Iraker_innen, Somalier_innen und Afghan_innen. Es leben dort Männer, Frauen und Familien mit Kindern. Bewohner_innen schätzten die Größe der Siedlung auf rund 500 Menschen.
Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit mit Blick auf den Aufenthaltsstatus und die Motivation, nach Großbritannien zu gelangen besteht darin, dass Großbritannien nicht das primäre Migrationsziel, sondern letzte Option zu sein scheint. Viele Menschen blicken auf einen vorherigen Aufenthalt in Deutschland zurück, der wegen einer drohenden Abschiebung beendet werden musste, und sind zudem auch oft im französischen Asylverfahren mit einer Anerkennung gescheitert.
Die Konstellation der Bewohner_innen beider Lebensorte ist von unseren Gesprächspartner_innen und von uns kaum vollständig zu überblicken. Sie ist einer ständigen Dynamik unterworfen. Unser Besuch fand zum Ende des Winters statt, den nur wenige Personen überhaupt – vor allem aber junge sudanesische Männer – im Old Lidl zu verbringe pflegen, hauptsächlich, weil ihnen das Geld für alternative Überwinterungsmöglichkeiten fehlt. Bei der zu erwartenden Wiederbesiedlung nach der großen Räumung dürfte sich die Struktur der Bewohner_innen alleine aufgrund der Jahreszeit ändern.
Für beide Siedlungsplätze unterscheiden sich auch die Rollen, die externe Akteure wahrnehmen. Während staatlich mandatierte Organisationen im Old Lidl überhaupt nicht präsent waren, entfalten sie in Grande-Synthe durchaus Aktivitäten am Siedlungsplatz. So gab es einen Bus zu einer Unterkunft und Mitarbeiter_innen einer Organisation, die gezielt Familien mit Kindern angesprochen haben. Die Qualität der Unterbringung und ob eine Unterbringung mit einem Verlassen des Grenzraums oder einem Übergang ins französische Asylsystem verknüpft ist, entzieht sich unserer Kenntnis.
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind an beiden Orten aktiv und werden an beiden Orten behindert, wobei die Schikanen in Calais weitreichender scheinen. Vor allem durch Verbote von Essensausgaben, deren Durchsetzung mit Hilfe von individuellen Geldstrafen, fiskalischen Sanktionen für die Organisationen und Einreiseverboten für ausländische Freiwillige bereits in die politische Debatte eingebracht worden ist.
Passagen
Am 15. März ist über 400 Menschen in 12 Booten die Passage nach Großbritannien gelungen. Die Überfahrt von 538 Menschen wurde von den französischen Sicherheitsbehörden vereitelt. Die Zahl der vielen an der Überfahrt gehinderten Menschen ist sicher ein Resultat der zunehmende Sicherung der Küstenlinie – auch mit Drohnen und Kameras. Dennoch scheint es chancenlos, die Passagen annähernd vollständig unterbinden zu wollen. Zum einen berichteten uns Menschen, dass sie bereits fünf Versuche unternommen hätten, mit dem Boot überzusetzen, zum anderen verteilen sich die die Abfahrtsorte auf einen immer größeren geografischen Raum – mit der Folge längerer und riskanterer Seerouten. Für den 15. März berichtet die Lokalzeitung La Voix Du Nord (aus eigener Beobachtung) von Ablegestellen vor Calais, Boulogne und vom Cap Gris-Nez.
Ein Preisdruck auf die Ökonomie der Schleuser_innen ist durch die Maßnahmen nicht zu beobachten. Nach Angaben unserer Gesprächspartner_innen sind Schleusungen per Boot mit 1.500 € bis 3.000 € aktuell günstiger als Schleusungen per LKW, die zur Zeit für bis zu 6.000 € angeboten werden. Während selbstorganisierte Passagen per LKW nahe der entsprechenden Infrastruktur und nahe der Grenze chancenreicher scheinen – im Old Lidl konnten wir Personen beobachten, die versucht haben, auf LKW zu gelangen – spielt der Lebensort bei Bootspassagen und kommerziellen Schleusungen eine nachgeordnete Rolle. Boote und Motoren können vorab an einem entfernten Abfahrtsort versteckt werden (uns wurde von einem entsprechenden Fund in La Slack berichtet) und bei kommerziellen Schleusungen wird die Anfahrt oft organisiert. Uns wurde berichtet, dass vor allem die Camps in der Region Dunkerque als Ausgangspunkt für Bootspassagen dienen. Im Ergebnis provoziert die Abschreckungspolitik immer riskantere Seepassagen und hält den Markt für kommerzielle Schleusungen lukrativ.
Es bleibt abzuwarten, in wie weit es den Schleuserorganisationen (mafias) in Grande-Synthe gelingt, die aktuell entstehenden Siedlungsplätze ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Die Mafias spielen dort historisch eine stärkere Rolle als in Calais, allerdings basierte ihre Dominanz in der Vergangenheit auch auf einer gewissen ethnischen Homogenität der Siedlungsplätze, die aktuell nicht mehr gegeben ist.
Aber nicht nur wegen der möglichen Rolle der Mafias sollten die im Vergleich zum Old Lidl besseren Lebensbedingungen in Grande-Synthe nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Siedlungen kein menschenwürdiges Leben erlauben. Beide sind geprägt von einer Abwesenheit grundlegender Daseinsfürsorge und einer Aufhebung staatlich geleisteter Hilfe zur unmittelbaren Existenzsicherung. Die Situation am Old Lidl stellt vielmehr eine weitere Zuspitzung des für Exilierte ohnehin bestehenden Ausnahmezustandes in der Region dar. Und auch wenn man mit Blick auf den Umgang mit Exilierten Unterschiede in der Kommunalpolitik in Calais und in Grande-Synthe feststellen kann, manifestiert sich an beiden Orten die gleiche gesamtfranzösische Politik der Nichtaufnahme und Abschreckung.
Diese Politik scheitert mit dem Blick auf das Ganze – weder werden die Bootspassagen vollständig verhindert, noch lassen sich jegliche Verstetigungen der Siedlungen – die points de fixations – unterbinden. In Grande-Synthe entsteht eine dörfliche Struktur, und selbst in Calais, bringen die gerade geräumten Exilierten, die das Glück haben, der Beschlagnahmung ihrer Habseligkeiten und der willkürlichen Verhaftung zu entgehen, noch unter den Augen der abrückenden Polizei ihre Zelte zurück auf den Siedlungsplatz.
(mit Sofia Beilharz)