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Calais Solidarität

Die Brutalität von Calais auf der Ebene von ganz Frankreich?

Die Organisation L’Auberge des Migrants hat eine Erklärung zur Stichwahl zur französischen Präsidentschaft veröffentlich. Wir dokumentieren sie in eigener Übersetzung.

Wir wenden uns aus Calais an Euch, einem toten Winkel Frankreichs, einer Enklave und einem Experimentierfeld für autoritäre Macht, das einen Vorgeschmack darauf gibt, wie das Land aussehen könnte, sollte Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt werden. 

Foto: Père Igor, Lizenz CC BY-SA 4.0

Seit Jahren bemühen wir uns, die brutalen Vorgehensweisen anzuprangern, die die aufeinander folgenden Regierungen (und insbesondere die Regierung Macron) gegen die Menschen anwenden, die in den Camps an der französisch-britischen Grenze überleben. Aber wir müssen uns eingestehen, dass heute eine neue Gefahr aufzieht, die in erster Linie Exilierte, Menschen muslimischen Glaubens, Rassifizierte, Prekäre, LGBTQIA+, das Klima usw. bedroht.

Wie würde diese wenig beneidenswerte Zukunft aussehen?
Das Asylrecht, das bereits auf ein Minimum reduziert wurde, würde praktisch abgeschafft. Es wäre das Ende des Ius soli [d.h. der Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit aufgrund des Geburtsortes, Anm. d. Übers.], bei der Vergabe von Wohnraum und Arbeitsplätzen würden französische Staatsbürger bevorzugt, und es ist anzunehmen, dass noch viele weitere fremdenfeindliche Zumutungen in der Trickkiste des RN verborgen sind.
An allen Grenzen würden wie in Calais Mauern, Zäune und Stacheldraht so hoch aufragen, dass sie die Sonne verdecken. Wer will schon in einem derart entstellten Territorium leben?
Wir würden ständig Menschenjagden erleben. Eine Flut von Repressionen und eine irrwitzige Prekarisierung würden über die Exilierten hereinbrechen, was man sich angesichts der Grausamkeit der gegenwärtigen Bedingungen kaum vorstellen mag. 

In Calais hat die Polizei seit langem freie Hand, um ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die Berichte über Polizeigewalt sind so zahlreich, dass man mit absoluter Gewissheit sagen kann, dass die Polizeigewalt systemimmanent ist.
Und doch könnte es unter einer Regierung Le Pen noch viel schlimmer werden. Dann würden wir in einem autoritären Staat leben, in dem die Polizei von allen Einschränkungen befreit wäre, welchen der Einsatz ihrer Waffe oder von Gewalt im Allgemeinen unterworfen sind. Als Opfer von Polizeigewalt könnte man sich nicht mehr rechtlich zur Wehr setzen, wobei dies schon heute für die meisten Bürgerinnen und Bürger äußerst schwierig und für Menschen im Exil nahezu unmöglich ist. 

Was uns betrifft, so würden unsere Aktionen völlig unmöglich gemacht und wir würden kriminalisiert. Wir wären froh, unsere Arbeit zu verlieren, aber nur, wenn endlich alle Menschen menschenwürdig aufgenommen würden.
Bei aller Erleichterung über das Ausscheiden einer ersten faschistischen Vogelscheuche mit furchteinflößend großen Holzschuhen [gemeint ist die Éric Zemmour, Anm. d. Übers.], dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass hinter der Kandidatur Le Pens ein ähnliches Projekt steht: Rassismus, übersteigerter Nationalismus, Brutalität und Revisionismus.
Wir wissen, die Minderheiten wären das erste Ziel dieser neuen Regierung, aber es wäre die Freiheit aller Menschen, die Stück für Stück beschnitten würde.

Marine Le Pen würde die Verfassung ändern, das Parlament und das Verfassungsgericht umgehen und die subsidiären politischen Organe zerschlagen, indem sie mithilfe von Referenden regiert, in denen Ja-Nein-Entscheidungen zur Auswahl stehen, die sie formuliert und mit denen sie zuvor den öffentlichen Raum verseucht hat.

Lassen wir nicht zu, dass die staatliche Gewalt, die in Calais, Grande-Synthe, Briançon und anderen Enklaven der Sicherheitsexperimente herrscht, das ganze Land in Brand setzt. Da der Faschismus sich nicht um Ökologie kümmert, sollten wir ihn ohne Mülltrennung in den Abfall werfen.