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Dunkerque & Grande-Synthe

Die Salven von Loon-Plage

Jungle an der Grenze von Dunkerque und Loon-Plage, März 2022. (Foto: Th. Müller)

In den vergangenen Tagen eskalierte im Umfeld der Camps bei Dunkerque ein mutmaßlicher Konflikt zwischen professionellen Schmugglern. Binnen weniger Tage wurden ein Mensch erschossen und mehrere weitere durch Schüsse teils schwer verletzt. Während der mittäglichen Essensverteilung war ein von Hunderten Menschen bewohntes Camp in Loon-Plage dem Feuer schwerer Waffen ausgesetzt. Freiwillige berichten von Schüssen, die in Salven abgegeben wurden. Dass sich vor allem in diesem Abschnitt der französischen Kanalküste mafiose Strukturen von Schmugglern herausgebildet haben, ist nicht neu, allerdings geht die jetzige Eskalation deutlich weiter. Die Behörden reagierten auf die Gewalt mit Ermittlungen wegen Mordes und Mordversuchs sowie der Räumung des betroffenen Camps. Wir fassen zusammen, was bislang bekannt ist.

Sekuritisierung und Mafia

Vieles spricht dafür, dass die Eskalation von professionell organisierten Schleusungsunternehmen ausgeht, die in Grande Synthe und anderen Randbereichen von Dunkerque seit mehr als einem Jahrzehnt stark verankert sind und ein faktisches Gewaltmonopol über ihre Kund_innen ausüben, das sich auch auf deren informelle Lebensorte erstreckt. So präsent die Polizei vor allem bei wiederkehrenden Räumungen der Camps ist, so wenig stellt sie, wie wir bei früheren Recherchen lernen mussten, einen Schutz vor der Macht dieser kriminellen Unternehmen dar. Die Verschließung legaler Migrationspfade und die Sekuritisierung der Küste erhöhten die Profitabilität des Marktes für illegalisierte Mobilitätsdienstleistungen seit der Jahrtausendwende kontinuierlich, wobei er in den vergangenen Jahren noch um Bootspassagen erweitert werden konnte und über ein jährliches Umsatzvolumen im unteren achtstelligen Eurobereich verfügen dürfte. Die Camps westlich von Dunkerque stellen hierfür eine wichtige logistische Ressource dar, und die Kontrolle über sie auszuüben ist inforen von ökonomischem Wert. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Verteilungskämpfe konkurrierender mafioser Unternehmen um Marktanteile und territoriale Hoheit als Hintergrund der jetzigen Eskalation anzunehmen, allerdings bleibt dies nach momentanem Kenntnisstand Spekulation.

Was den momentanen Konflikt ausmacht, wann er begann, wer seine Akteur_innen sind und was ihn hin zu Mord eskalieren ließ, muss also also bleiben.

Jedenfalls berichten zwei zivilgesellschaftliche Organisationen, nämlich ADRA und Utopia 56, gegenüber dem französischen Onlinemedium InfoMigrants, dass es „mindestens seit Donnerstag“, dem 19. Mai, Schüsse in dem Camp gegeben habe.

22. Mai, Jungle von Loon-Plage

Am frühen Nachmittag des 22. Mai fielen Schüsse im bzw. am Jungle, einem von etwa 300 bis 500 Exilierten unterschiedlicher Nationalität genutzten Camp an der Route du Port Fluvial in Loon-Plage westlich von Grande Synthe (zu diesem Camp siehe hier [1]). Die Schießerei ereignete sich während der Verteilung von Mahlzeiten durch zivilgesellschaftliche Organisationen.

Claudette Hannebicque vom Verein ADRA war Zeugin des Geschehens. Sie berichtete InfoMigrants: „Es geschah gegen 13.30 Uhr, 13.45 Uhr. Ich befand mich weit weg vom Eingang […] am anderen Ende des Camps, als ich eine erste Salve hörte.“ Als sie die Bewohner_innen „völlig panisch durch das Camp rennen“ sah, hätten sie und andere Freiwillige realisiert, dass es sich um Schüsse handelte. „Es war wie ein Maschinengewehr. Ich habe mich auf den Boden geworfen.“ Die Schüsse seien aus Richtung der am Campeingang gelegenen Dünen in drei Salven abgegeben worden: „Insgesamt dauerte es, glaube ich, eine Minute. Eine Salve, ein paar Sekunden Ruhe, eine zweite Salve, ein paar Sekunden Ruhe, und eine dritte Salve.“ Die am Eingang des Camps präsenten Freiwilligen hätten sich hinter Fahrzeugen in Sicherheit gebracht. Auf der Suche nach einem Ausweg aus der bedrohlichen Situation seien ihr Verletzte entgegengekommen. „Er hatte eine Kugel in den Arm bekommen. Er konnte laufen, aber er blutete. Wir riefen die Feuerwehr und dann die Polizei. Dann kam wenige Sekunden später ein weiterer Mann, ein irakischer Kurde. Er wurde von anderen Leuten in einer Decke getragen, er war in den Bauch getroffen worden, glaube ich, er war in schlechter Verfassung.“

Die Freiwillige betonte, eine solche Situation während ihrer längjährigen Arbeit on the ground noch nicht erlebt zu haben. Normalerweise gabe es Schüsse in der Nacht und man höre sie aus der Ferne. „Hier konnten wir die Schützen nicht sehen, aber es geschah mitten am Tag in unserer Nähe! […] Angesichts der Schießerei bin ich erstaunt, dass es nicht mehr Verletzte gibt“.

Die Polizei bestätigte später einen Schwer- und einen Leichtverletzten. Die Staatsanwaltschaft von Dunkerque ermittelt nun gegen Unbekannt wegen versuchten Mordes. „Am Tatort wurden zahlreiche Patronenhülsen aus 9 mm und 5,6 mm gefunden, was die These von zwei Schützen untermauern könnte,“ so die Zeitung La Voix du Nord am Tag nach der Tat. In einem späteren Bericht ist von „einer Reihe von Schüssen vom Typ Kalaschnikow“ die Rede.

23. Mai, Grande-Synthe

Am Abend des folgenden Tag, des 23. Mai, wurde in Grande-Synthe, das durch das Waldgebiet Pluythouck von Loon-Plage getrennt ist, erneut ein Migrant angeschossen und ein weiterer getötet. La Voix du Nord meldet dazu: „Die Tat ereignete sich in einem Waldgebiet [2] hinter dem Auchan-Einkaufszentrum in Grande-Synthe. Gegen 22 Uhr wurde ein erster Migrant mit einer Schussverletzung behandelt. Sein Zustand war nicht besorgniserregend. Eineinhalb Stunden später wurden die Polizei und die Feuerwehr jedoch zu einem zweiten Mann mit einer Schussverletzung gerufen. Dieser überlebte nicht. Er verstarb im ‚Jungle‘. Es handelte sich um einen kurdischen Iraker im Alter von etwa 30 Jahren.“

Der Staatsanwalt von Dunkerque, Sébastien Piève, bestätigte das Tötungsdelikt: „Wir wissen noch nicht, ob das Tötungsdelikt in Grande-Synthe, der kurz zuvor gefundene Schussverletzte und die Schießerei vom Sonntag miteinander in Verbindung stehen“, zitiert ihn La Voix du Nord. „Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Abrechnung vor dem Hintergrund des Menschenschmuggels handelt. Mit zwei Verletzten, einem Schwerverletzten und einem Toten ist die Situation besorgniserregend […] Leider wissen wir aus Erfahrung, dass kriminelle Organisationen, die Menschenschmuggel betreiben, sehr gewalttätig sein können, da die finanziellen Einsätze kolossal sind“. Die Ermittlungen seien von der Grenzpolizei und der Kriminalpolizei von Lille übernommen worden.

25. Mai, Jungle von Loon-Plage

Zwei Tage nach dem Mord räumten die Behörden den Jungle von Loon-Plage, und sie taten es beinahe in der Art und Weise, wie sie es im Gebiet von Dunkerque immer tun: als formal humanitäre Maßnahme zum Schutz und zur Unterbringung der Betroffenen, die sich jedoch alsbald im selben oder einem vergleichbaren Camp wiederfinden werden und damit der Macht, die bewaffnete Schmuggler über ihre informellen Lebensorte ausüben, nicht entkommen können.

Räumung des Camps in Loon-Plage, 25. Mai 2022. (Quelle: Human Rights Observers / Twitter)

Auch die Räumung am 25. Mai war eine solche sogennannte mise à l’abri-Operation. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers, die im Rahmen ihrer kontinuierlichen Beobachtung auch diese Räumung dokumentierten, berichteten von einem außergewöhnlich großen Aufgebot an Polizeikräften, darunter 18 Fahrzeuge der CRS. „Es war ziemlich ruhig, aber wir haben bemerkt, dass die Ordnungskräfte stärker bewaffnet waren als sonst“, erklärte eine Vertreterin der Gruppe gegenüber InfoMigrants. Anders als üblich, hätten fast alle Beamten gut sichtbar halbautomatischen Waffen getragen.

Als symbolpolitischer Akt mag dies Handlungsmacht demonstrieren. Aber es dürfte weder die Lage der Exilierten verbessern, noch die Machtverhältnisse aufbrechen, die der Eskalation der vergangenen Tage vermutlich zu Grunde liegen.

Anmerkung:

[1] Im Gebiet um Grande-Synthe besteht eine verschachtelte Situation kommunaler Grenzen, was in der Berichterstattung dazu führt, dass Camps zu Grande-Synthe gerechnet werden, die tatsächlich auf dem Gebiet einer anderen Kommune oder sogar mehrerer Kommunen liegen. In diesem Fall sind dies Loon-Plage und Dunkerque.

[2] Hinter dem Auchan-Einkaufszentrum in Grande-Synthe beginnt das weitläufige Puythouck-Gebiet. In diesem Bereich existieren seit mehreren Jahren Camps und finden groß angelegte Räumungen statt. An der entgegengesetzten Seite des Puythouck befindet sich jenseits eines Kanals der Jungle von Loon-Plage.