Der 19. Juli 2022 war auch in Nordfrankreich ein Tag mit extremer Hitze. Die Temperatur lag bei knapp 40°C und die Präfektur der Region Hauts-de-France und Nord verbreitete auf Social Media eine Serie von Infografiken über die Bedeutung des Trinkens und den Schutz vulnerabler Personen. Der Zugang zu Trinkwasser ist bei einer solchen Wetterlage in der Tat existenziell, für Hunderte Migrant_innen in Calais und bei Dunkerque aber nicht gegeben. Wir berichteten an dieser Stelle bereits mehrfach über den ungenügenden und zuweilen schlicht fehlenden Zugang zu Trinkwasser (siehe zuletzt hier). Ein aktuelles Beispiel ist die Beschlagnahmung eines Trinkwasserbehälters am Tag nach dem bisherigen Hitzerekord in Loon Plage bei Dunkerque, dem Standort eines der größten informellen Camps der Region.
Der Vorfall am Morgen des 20. Juli 2022 ist in einem Video dokumentiert, das Freiwillige von Human Rights Observers während einer Räumung aufnahmen und das in den Sozialen Medien rasch zirkulierte. Der kurze Film zeigt den Abtransport des Wasserbehälters in der Schaufel eines Traktors.
Bereits am 30. Juni 2022 hatte in Dunkerque Médecins du Monde öffentlich gegen den fehlenden Zugang von rund 400 Exilierten zu Trinkwasser protestiert, woraufhin die Behörden zu Gesprächen bereit waren. „Bei einem Treffen zwischen mehreren Organisationen und der Unterpräfektur von Dunkerque wurde vereinbart, dass die Wassertanks, die den Exilierten von Charitable Roots zur Verfügung gestellt wurden, bei Räumungsaktionen nicht beschlagnahmt werden würden“, so Human Rights Observers. „Dies war heute Morgen nicht der Fall“, kommentiert die Organisation mit Blick auf das Video.
„Es ist dringend notwendig, auf das Grundrecht des Zugangs zu Wasser zu reagieren!“, fordert Utopia 56, die am 19. Juli gemeinsam mit Médecins du Monde an dem Treffen mit dem Kommunalverband, der die Stadt Dunkerque mit ihren Umlandgemeinden umfasst, teilgenommen hatte.
„Seit Monaten arbeite ich über den Zugang zu Wasser in den Camps von Calais, Grande-Synthe und nun auch Loon Plage. Der Zugang ist ungleichmäßig oder sogar fast nicht vorhanden,“ schrieb der Calaiser Journalist Louis Witter auf Facebook und erinnerte daran, dass die Behörden in Calais im vergangenen September sogar Felsbrocken herbeigeschafft hatten, um das Calais Food Collective daran zu hindern, einen Trinkwassertank zu befüllen. Über den aktuellen Vorfall berichtet er außerdem, dass ein Bediensteter des Hafens von Dunkerque/Grande-Synthe, zu dem ein unmittelbar am Camp von Loon Plage vorbeiführender Kanal gehört, „mit den Ordnungskräften, die die Räumung durchführten“, verhandelt und sie darauf hingewiesen habe, „dass Wasser normalerweise nicht beschlagnahmt werden dürfe“. Während der Räumung zirkulierte offenbar die Aussage, der Tank würde nach Abschluss der Operation wieder aufgestellt. Dies geschah, wie Witter gegen Mittag berichtete, jedoch nicht, „sodass die im Camp verbliebenen Personen heute keinen Zugang zu Wasser haben.“
Witter weist darauf hin, dass der konfiszierte Tank „nicht der einzige in den verschiedenen Camps in Loon-Plage und Grande-Synthe [ist]. Es sollen weniger als sechs übrig geblieben sein, die jeweils 500 Liter fassen.“ Der Bedarf an Wasser zeige sich in der Zahl von etwa 20.000 Litern, die am Hitzetag, dem 19. Juli, von Roots an die Geflüchteten verteilt wurden.
Am heutigen 21. Juli teilte die Präfektur in einer knapp gehaltenen Presseerklärung mit, dass die Beschlagnahme des Wasserbehälters in Loon Plage „aus Versehen“ geschehen sei. Wie dem auch sei: Im Gesamtzusammenhang erscheint sie keineswegs als singulärer Missgriff.
Dies gilt auch für Calsis. Von dort wurde bekannt, dass die Behörden angesichts des Extremwetters keine Alternative zum Leben in den Camps angeboten, wie es im Winter bei starkem Frost durchaus praktiziert wird. Vielmehr führten sie am 18. Juli die 991. dokumentierte Räumung informeller Lebensorte seit Jahresbeginn durch: „In Zeiten der Hitzewelle könnte man meinen, dass die Einrichtung von Wasserstellen, die für alle zugänglich sind, eine Priorität wäre. In Calais ist das nicht der Fall, denn hier werden die Menschen lieber geräumt und ihre Sachen (Zelte, Planen, Taschen…) gestohlen“, so die Organisation. Im Juni war in Calais, wie bereits im Sommer des Vorjahres, außerdem ein Trinkwasserbehälter zerstochen worden – Augenzeug_innen zufolge durch Angehörige der Polizei (siehe hier).
Gegenüber der Zeitung La Voix du Nord erklärte die Präfektur des Departements Pas-de-Calais, angesichts der Hitze seien die vorhandenen Strukturen zur Versorgung der Migrant_innen mit Wasser intensiviert worden. Insbesondere habe der staatlich mandatierte Verein La vie active zusätzliche Fünf-Liter-Kanister mit Trinkwasser verteilt; die Präfektur schätzt die Menge des verteilten Wassers seit dem 13. Juli auf fast 21.000 Liter. Mehrere ohne staatliches Mandat arbeitende Organisationen weisen einmal mehr auf die Unzulänglichkeit dieser Versorgung hin. Der Vorsitzende Calaiser Verein Salam, Jean-Claude Lenoir, sagte der Zeitung: „Es ist einfach, ein System zu verstärken, wenn man von einem sehr niedrigen Niveau ausgeht.“ Einerseits ermutigten die Behörden seine Organisation zur Hilfe, aber „andererseits hindert uns die Polizei daran, Wasserflaschen am Kanal im Stadtzentrum von Calais zu verteilen.“ Ein Freiwilliger von Auberge des Migrants weist darauf hin, dass die im staatlichen Auftrag eingerichteten Zugangsstellen zu Trinkwasser promelatisch seien, weil sie „zu weit von den Migranten entfernt“ lägen und den Betroffenen während der Hitzewelle weite Wege abverlangten. Das Calais Food Collevtive verteile in Zusammenarbeit mit seiner Organisation mit Hilfe über regelmäßig befüllte Trinkwasserbehälter rund 11.000 Liter Wasser pro Tag – ohne staatliches Mandat.
Das seit dem Spätsommer 2020 immer wieder verlängerte Verbot der Präfektur des Pas-de-Calais, in bestimmten Teilen von Stadt, und zwar in der Umgebung der Camps, Hilfsgüter ohne staatliches Mandat zu verteilen, erschwert die Arbeit von Organisationen wie Salam oder Calais Food Collective bewusst. Hinzu kommt, dass die systematische Rodung des Buschwerks auf dem Gelände mehrerer Camps den Bewohner_innen nicht nur, wie primär intendiert, ihren Sicht- und Witterungsschutz nimmt und es ihnen erschwert, Zelte und Schutzplanen zu fixieren. Bei extremer Hitze fehlt ihnen nun der Schatten.
Der unzureichende Zugang zu Trinkwasser, wie er in solchen Fällen sichtbar wird, ist in den über lange Zeit etablierten Routinen der Grenzpolitik angelegt. Er ist systemisch.