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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Utopia 56 über Polizeigewalt im Vorfeld von Bootspassagen

Seit Beginn des Jahres gelang rund 14.000 Menschen die Bootspassage des Ärmelkanals. Auf ihrer Reise sind die nordfranzösischen Strände der letzte Ort, an dem die französischen Behörden regulär und systematisch eingreifen, um das Ablegen der Boote zu unterbinden. Befindet sich ein Boot bereits auf See, wird es in den französischen Hoheitsgewässern nicht an der Weiterfahrt gehindert – so die Faustregel, bevor im Frühjahr dann doch ein Pullback-Fall bekannt wurde (siehe hier). Nach wie vor aber fokussieren die Polizei- und Gendarmeriebehörden ihre personellen und technischen Ressourcen auf einschlägige Küstenstreifen und deren Hinterland; auch die Luftüberwachung durch Frontex konzentriert sich auf dieses Gebiet. Die weitläufigen und bei Nacht meist menschenleeren Strand- und Dünengebiete sind zum Schauplatz der Auseinandersetzung um das Ablegen der Boote geworden, in deren Verlauf es schon in der Vergangenheit zu gewalttätigen Übergriffen auf Migrant_innen kam (siehe hier). Aktuell meldet Utopia 56 eine Zunahme dieser Form grenzpolitischer Gewalt und macht drei Fälle öffentlich, die sich zwischen dem 3. und 6. Juli 2022 ereignet haben.

„In Nordfrankreich, zwischen Calais und Grande-Synthe, wird die Strategie der Abschreckung und Schikanierung von Exilierten, die nach England gelangen wollen, immer gewalttätiger“, erklärte Utopia 56 am 11. Juli 2022. Die Organisation erfahre „regelmäßig von Polizeigewalt im Zusammenhang mit den Überfahrten“ und habe sich im Juli bereits dreimal an das Kollegium für Sicherheitsethik der Défenseur des droits – eine unabhängige Behörde der Französischen Republik zur Verteidigung der (Menschen-)Rechte – gewandt. Die jeweils zu Grunde liegenden Fälle wurden von den Calais und Grande-Synthe tätigen Utopia-Teams dokumentiert.

So wurde das Calaiser Team in der Nacht vom 4. auf den 5. Juli von einer Gruppe von 35 Personen angerufen, die versucht hatten, mit einem Boot nach Großbritannien überzusetzen. Zu der Gruppe gehörten sechs Minderjährige und eine Familie mit einem fünfjährigen Kind. Während des Ablegens näherte sich die Polizei, setzte Tränengas ein und zerschlitzte das Boot mit Messern, sodass die Menschen gewungen waren, „an den Strand zurückzukehren, während die Polizei weiterhin Gas einsetzte.“ Über das weitere Geschehen heißt es: „M., ein 24-jähriger Mann, wurde mit einem Schlagstock geschlagen, zu Boden gebracht, wobei sein Kopf vom Fuß eines Polizisten niedergedrückt wurde, dann in Handschellen gelegt und festgenommen. Mehrere andere Personen berichten, dass sie ebenfalls geschlagen wurden. Die Familie wurde ins Krankenhaus gebracht.“ Utopia 56 zitiert folgende Aussage: „Wir waren am Strand. Die Polizei sprühte eine Substanz, die im Auge und im Gesicht brennt. Wir haben ihnen gesagt, dass ein Kind dabei ist, aber der Polizei war das egal, sie haben uns geschlagen, haben M. geschlagen und ihn verhaftet. Es war eine brutale Behandlung uns gegenüber.“ Auch das Kind sei mit der Substanz besprüht worden.

Ein anderer Fall ereignete sich am 3. Juli. Ein 15jähriger Jugendlicher berichtet, dass er sich mit seiner Mutter und vier weiteren Personen in einem Auto auf dem Weg zum Boot in der Nähe von Calais befunden habe, als die Polizei den Wagen stoppte. Da die Polizei allen Handschellen angelegt hätten, hätten er und ein Freund sich krank gestellt, um nicht festgenommen zu werden. Die beiden Jugendlichen seien dann vor einem Krankenhaus zurückgelassen worden, nachdem man sie geschlagen und beleidigt habe. „Die Mutter und die vier anderen Personen wurden mitgenommen und später freigelassen, ohne ihr Geld und ihre Telefone, die von der Polizei beschlagnahmt worden waren, zurückerhalten zu haben,“ so Utopia 56.

Der dritte Fall betraf eine Gruppe von 60 Personen, die am Morgen des 6. Juli in einem Dünengebiet nahe Leffrinckoucke östlich von Dunkerque aufgegriffen wurden. Dabei wurde ein 32-jähriger Mann durch ein Gummigeschoss am Knöchel verletzt. Gegenüber Utopia 56 erklärte er: „Der Polizist hat einfach mit einer Plastikkugel [einem Flashball] auf mich geschossen und mit einem Stock auf mich eingeschlagen“. Als der Mann den Polizisten bat, den Krankenwagen zu rufen, habe dieser geantwortet: „Ich sehe nicht aus wie ein Taxifahrer, du hast ein Telefon. Du kannst den Krankenwagen rufen.“ Schließlich verständigte ein inzwischen alarmiertes Utopia-Team den Notdienst. „Der Mann fügt hinzu, dass einige Polizisten ihm nicht nur an den Knöchel geschossen, sondern auch auf ihn eingeschlagen hätten, während er am Boden lag, und ihn in seiner Heimatsprache Sorani als ‚Hurensohn‘ beschimpft hätten“, hebt Utopia 56 hervor und merkt an: „Der Bericht der Notaufnahme bestätigt ein Hämatom am Knöchel.“