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Notrufe ins Leere (2)

Neue Erkenntnisse zur tödlichen Havarie am 24. November 2021

Wir berichteten an dieser Stelle schon mehrfach über die unaufgeklärten Hintergründe der tödlichen Havarie, bei der am 24. November 2021 vor Calais 27 Menschen ertranken, zwei seither vermisst werden und lediglich zwei überlebten (siehe hier, hier, hier und hier). Entgegen der ursprünglichen Darstellung der Behörden hatten die beiden Überlebenden berichtet, wiederholt Nortufe an die französischen und britischen Küstenwachen abgesetzt zu haben, aber jeweils an den anderen Staat verwiesen worden zu sein, weil sie sich (angeblich) auf dessen Hoheitsgebiet befänden. Unklar ist inbesondere, ob das Boot bereits britisches Hoheitsgebiet erreicht hatte und ob die Rettungsdienste tatächlich wegen einer Zuständigkeitsfrage untätig blieben – und den Horror für die Passagier_innen dadurch um genau jene Stunden verlängerten, in denen die meisten von ihnen starben. Ein Bericht des Senders Sky News vom 26. Juli 2022 stützt nun die Aussagen der Überlebenden.

Der Sender bezieht sich auf eine „vorläufige Untersuchung, die von einer Anwaltskanzlei im Auftrag einiger Angehöriger durchgeführt wurde“ und „die Kommunikation zwischen den britischen und französischen Rettungsdiensten aufgedeckt“ habe. Diese Kommunikation lasse „darauf schließen lässt, dass keine der beiden Seiten die Verantwortung für die sich anbahnende Katastrophe übernahm.“ Außerdem stützte sich der Bericht der Anwält_innen „auf Aussagen der beiden Überlebenden sowie auf Telefonanrufe, Textnachrichten und E-Mails.“

Der Bericht bestätige, so Sky News zusammenfassend, „dass die Passagier_innen die französischen und englischen Rettungsdienste zunächst gegen 2 Uhr morgens anriefen und sie dann fast zwei Stunden lang anflehten, einzugreifen.“

Wörtlich zitiert der Sender: „Einige Minuten nach diesem ersten Anruf fragten die französischen Rettungsdienste erneut nach der Position des Bootes. […] Die Position des Bootes befand sich zu diesem Zeitpunkt in englischen Gewässern. Das französische Rettungsteam übermittelte daraufhin die Position an das englische Rettungsteam und teilte ihm mit, dass es seine Aufgabe sei, dem Boot zu helfen. […] Das englische Rettungsteam versuchte, eine der Nummern anzurufen, die ihm vom Cross Gris Nez (französische Küstenwache) gegeben worden waren, aber der Ton des Anrufs deutete darauf hin, dass sich das Boot in französischen Gewässern befand. Es war daher der Ansicht, dass die Verpflichtung zur Hilfeleistung bei der Cross Gris Nez lag.“

Sky News bezieht sich außerdem auf den Bruder eines der Vermissten, nämlich des 18-jährigen Twana Mamand Mohammad aus dem Nordirak. Sein Bruder, der Polizist Zana, habe die Ermittlungen der Anwält_innen von Anfang an unterstützt. Er sagte dem Sender: „Alle Informationen deuten darauf hin, dass sie mehr als sechs bis sieben Stunden auf Hilfe gewartet haben […]. Selbst wenn […] die Küstenwache stark belastet war, hätten sie ihnen in diesen paar Stunden sicherlich noch zu Hilfe kommen können.“ Aus Zanas Sicht liegt die Hauptverantwortung für die Havarie zwar bei den Schmuggler_innen, weil sie es versäumten, „die notwendigen hochwertigen Geräte und Materialien für die Reise bereitzustellen“. Aber auch die Küstenwachen beider Länder seien Schuld am Tod der Geflüchteten. Denn sie „haben fahrlässig gehandelt, indem sie ihnen nicht zu Hilfe kamen.“

Erst dadurch war es aus seiner Sicht möglich, „dass das Boot sechs Stunden lang in den Gewässern war und dass sie 80 Mal Großbritannien und Frankreich angerufen haben. Auch Frankreich und Großbritannien sind verantwortlich.“

Gegen mehrere Mitarbeiter_innen der Schmuggler_innen geht die französische Justiz inzwischen strafrechtlich vor (siehe hier). Die strafrechtliche Aufarbeitung des Kompezenzgerangels der Rettungsdienste steht aus.