Die gewaltsame Eskalation im Jungle von Loon-Plage westlich bei Dunkerque, in deren Verlauf am 30. August 2022 neun sudanische Bewohner durch Schusswaffen verletzt wurden, setzt sich fort. Lokalen Medien zufolge wurden am 6./7. September drei weitere Personen schwer verletzt und es ist fraglich, ob sie überleben werden. Zwei der Opfer stammen aus dem Sudan und eines aus Kurdistan. Die Presse vergleicht den modus operandi der Taten mit Hinrichtungen. Wir versuchen eine erste Rekonstruktion der Ereignisse auf Basis der lokalen Berichterstattung.
Seit mehreren Monaten kommt es in Loon-Plage vermehrt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die als Konkurrenzkampf zwischen professionellen Schleuser_innen gedeutet werden (siehe hier). Überlagert wird dies durch eine zweite Konfliktlinie, die offenbar zwischen sudanischen Bewohner_innen des Jungle von Loon-Plage und der irakisch-kurdischen Schleuserorganisation verläuft, die dort faktisch die Macht ausübt. Dieser Konflikt eskalierte am 30. August, als eine bewaffnete Gruppe kurdischer Männer offenbar wahllos auf Angehörige der sudanischen Community schoss und neun Menschen teils schwer verletzte. Einer der Betroffenen befindet sich, wie nun bekannt wurde, noch immer im Koma. Die Tat wurde als Machtdemonstration und Einschüchterung der sudanischen Bewohner_innen des Camps gedeutet (siehe hier).
Wie die Zeitung La Voix du Nord berichtet, sprachen nach der Schießerei vom 30. August „zahlreiche“ Sudaner_innen mit der Polizei und gaben genaue Beschreibungen der Täter ab. Die Hinweise hätten am 2. September zur Festnahme von drei verdächtigen Irakern geführt, die am 5. September „wegen versuchten Bandenmordes und krimineller Vereinigung“ angeklagt und inhaftiert wurden. „Einer von ihnen wurde als Anführer des Camps beschrieben“, so das Blatt. In der Nacht vom 6. auf den 7. September folgte dann ein neuer Gewaltakt: „Zwei Sudanesen wurden in der Nacht quasi hingerichtet, wie um eine Botschaft zu übermitteln.“ Die Zeitung stützt ihre Darstellung auf Angaben der Ermittlungsbehörden, die einen solchen Zusammenhang als wahrscheinlich ansehen.
Konkret ist bekannt, dass die Rettungskräfte am 6./7. September Schüsse hörten, als sie sich gegen Mitternacht dem Jungle näherten. „Vor Ort entdeckten die Teams des SMUR und der Feuerwehr zwei Migranten mit Schussverletzungen. Einer hatte ein Projektil in die Schulter bekommen, das durch den Schädel wieder ausgetreten war, der andere in die Brust.“ Die beiden Verletzten wurden in regionale Krankenhäuser gebracht. „Die Ärzte beurteilen ihre Überlebenschancen sehr pessimistisch.“
Die ersten Ermittlungen deuteten darauf hin, „dass es sich um eine Vergeltungsaktion, eine regelrechte Hinrichtung, handelt. Bei den beiden Opfern handelt es sich um junge sudanesische Staatsangehörige. Wir befinden uns in der gleichen Situation wie bei der Schießerei letzte Woche‘, sagt der Staatsanwalt von Dünkirchen, Sébastien Piève. Das heißt, Kurden verbreiten Angst und Schrecken unter der sudanesischen Gemeinschaft. Die Iraker haben ihre Anwesenheit in diesem Lager nie akzeptiert und führen es mit eiserner Hand.“
Am Mittag danach kam es zu einem weiteren Vorfall, allerdings war das Opfer laut La Voix du Nord in diesem Fall ein Kurde. Die Tat ereignete sich auf einer Straße des Jungle, an der sich mehrere improvisierte Verkaufsstände, Läden und Imbisse befinden. „Inmitten des geschäftigen Treibens postiert sich ein Mann vor etwas, das wie ein kleines Geschäft aussieht. Er zieht eine Waffe und schießt aus nächster Nähe auf einen kurdischen Staatsangehörigen. Das Opfer wurde am Kopf getroffen. Die Rettungskräfte wurden gegen 13 Uhr verständigt. Sie kümmerten sich um das Opfer. Es befand sich in einer lebensbedrohlichen Situation, als es in das Regionalkrankenhaus in Lille gebracht wurde.“ Nach Angaben der Polizei seien „mehr als 100 Zeugen“ anwesend gewesen, als die Tat geschah, allerdings fand sich offenbar niemand, die/der etwas gesehen hatte oder zu einer Aussage bereit war.
Ob – und, wenn ja, in welchem – Zusammenhang die Taten vom 7. September zueinander stehen, ist noch unklar. Auch ist zu bedenken, dass bislang keine Schilderungen oder Einschätzungen aus dem Camp selbst oder von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die mit der dortigen Situation vertraut sind, vorliegen. Nicht zuletzt sind die Ereignisse im Kontext einer Grenzpolitik zu sehen, die legale Migrationswege verschließt und damit den Raum für mafiose Unternehmungen öffnet.
Das gewalttätige Agieren von Schleusern im Raum Dunkerque ist seit Langem bekannt. Die nun eingetretene Situation mit zwölf Mordversuchen binnen einer Woche aber ist singulär.