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Channel crossings & UK

Konservative Utopie und kontrafaktische Politik: Zum Rücktritt Priti Patels

Meldung des BBC-Journalisten Simon Jones zur Ankunft von Channel crossers in Großbritannien, 5. September 2022 (Quelle: Simon Jones / Twitter)

In wenigen Tagen, vielleicht auch nur in wenigen Stunden, werden so viele Menschen den Ärmelkanal seit Jahresbeginn in kleinen Booten passiert haben wie im gesamten Jahr 2021. Waren es damals rund 28.500 Personen, so sind es in diesem Jahr bereits knapp 27.500. Das Erreichen der jeweiligen Vorjahreszahl und die darin sichtbare Dymanik der Migration auf der Kanalroute sind im britischen Mediendiskurs seit einigen Jahren ein symbolbelades Ereignis. In diesem Jahr fällt es mit der Entscheidung über die Übernahme des Parteivoritzes der Konservativen Partei und damit der künftigen Regierungsgeschäfte durch Liz Truss zusammen – und mit dem Rücktritt von Innenministerin Priti Patel, die auf diese Weise vermutlich ihrer Entlassung durch Truss zuvorkam.

Rücktrittsschreiben der britischen Innenministerin Priti Patel, 5. September 2022. (Quelle und vollständiger Text: Twitter)

„Our historic Immigration Act has ended free movement and has taken back control of our borders,“ schrieb Patel am 5. September in ihrem Rücktrittsschreiben an Boris Johnson. Es wäre billig, dieses Statement mit der Zahl der Channel migrants zu kontrastieren, zumal dies der konservativen Häme gliche, Patel habe bei der Bekämpfung der Migration auf der Kanalroute versagt. Dennoch ist die Geschichte der Migrationspolitik Patels eine Geschichte des Scheiterns. Trotz immer neuer finanzieller, organisatorischer, legislativer und außenpolitischer Anläufe wird die Kanalroute von Jahr zu Jahr stärker frequentiert. Keine der politischen Maßnahmen Patels konnte diese Dynamik umkehren oder auch nur einfrieren, obschon die Ministerin immer wieder prognostizierte, dass die Route demnächst unviable sein werde. Einige Maßnahmen wie beispielsweise die monatelang vorbereiteten Puchbacks in der Mitte des Ärmelkanals wurden nie umgesetzt. Andere, wie die Kameraüberwachung eines Teils der nordfranzösischen Küstenlinie, scheiterten bereits im Ansatz. Ein Abkommen für Abschiebungen in die EU oder in einen EU-Staat, das die mit dem Brexit für Großbritannien nicht mehr geltende Dublin-Regelung ersetzen würde, kam nie zustande. Das bilaterale Verhältnis zu Frankreich wurde durch gegenseitige Vorwürfe zerrüttet. Das genaue Geschehen, das am 24. November 2021 zum Tod von mindestens 27 Menschen bei einer Havarie führten, ist nach wie vor ungeklärt.

Aber das offensichtliche Scheitern liegt nicht darin, dass Priti Patel persönlich versagt habe, sondern ist in der Konzeption ihrer Grenzpolitik angelegt – und in ihrer Fehleinschätzung, am Ärmelkanal den Grundstein für ein neues globales Migrationsregime legen zu können.

Bereits die Kernaussagen dieser Politik, nämlich dass Großbritannien die Kontrolle über seine Grenzen verloren habe und sein Asyl- und Einwanderungssystem zerbrochen sei, entsprachen nie den Tatsachen. Schon zur Zeit ihrer Amtsvorgänger_innen Theresa May und Sajid Javid hatte die britische Regierung eine dreistellige Millionensumme in das britisch-kontinentaleuropäische Grenzregime investiert. Konkret hatte sie einen Großteil der britischen Migrationsbekämpfung an Frankreich outgesourct. Als Patel ihr Amt antrat, hatte niemand die Kontrolle über die Grenze verloren, diese war vielmehr ein hochgradig organisiertes, technisiertes und sekuritisiertes Gefüge, das zu keinem Zeitpunkt aufhörte zu funktionieren. Allerdings konzentrierte sich der Ausbau der Grenze auf den Frachtverkehr per Straße und Schiene. Dass mit deren Verschließung Boote zum Mittel der Wahl werden würden, war übersehen worden, und genau dies machten sich kommerzielle Schmuggler_innen, aber auch eigenständig handelnde Menschen, seit 2018 mehr und mehr zunutze. Eine legale Einreisemöglichkeit per Fähre, um sodann in Großbritannien ein Anerkennungsverfahren betreiben zu können, hätte Menschenleben gerettet, Traumatisierungen verhindert und nebenher das Geschäftsmodell kommerzieller Schmuggler_innen unviable gemacht. Die britische Politik aber ließ das Geschäftsmodell der Mafia lukrativer werden.

Mit dem 2021 vorgelegten New Plan for Immigration, dem darauf basierenden Nationality and Borders Act, der Übertragung der Zuständigkeit für die Bekämpfung der Bootspassagen auf das Militär und schließlich die Migration and Economic Development Partnership mit Ruanda setzte Patel im April 2022 ein Bündel besonders restriktiver Agenden, Gesetze und Vereinbarungen durch. Jede dieser Komponenten bezog ihre Legitimation aus dem Mythos des Kontrollverlustes über die Grenzen, verbunden mit der angeblichen Rettung von Menschenleben. Damit lenkte die konvervative Poltikerin den Furor der Brexiteers gegen die EU auf die small boats der Channel crossers um. Patel bediente vor allem den rechten Rand ihrer Partei.

Patels Migrationspolitik war ein zutiefst konservatives Projekt, das an den Kern der liberalen und rechtstaatlichen Tradition der britischen Demokratie rührt. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juni den ersten Deportationsflug stoppte, der nichtruandische Geflüchtete gegen ihren Willen und unter Anwendung von Gewalt nach Ruanda schaffen sollte, reagierte das migrationspolitische Personal der Regierung Johnson mit schierer Verachtung der Justiz. Die Ankündigung, sich in Zukunft nicht mehr an solche Entscheidungen zu halten, schien zum goten Ton zu avancieren. Hatten sich Anwält_innen zuvor bereits dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, durch die Verteidigung von Geflüchtetenrechten linken Aktivismus zu betreiben, so traf dieser Vorwurf des Verrats nun die europäische Justiz. Diese Verachtung des Rechts ähnelt dem offenen Rechtsbruch, der an den südlichen und östlichen Außengrenzen der EU gängig geworden ist. Mehrmals sah sich der UNHCR gezwungen zu dementieren, er habe den Ruanda-Deal für vereinbar mit internationalem Flüchtlingsrecht erklärt; tatsächlich hatte der UNHCR den Deal verurteilt.

Zum migrationspolitischen Werkzeugkasten Johnsons und Patels gehörte, wie hier deutlich wird, auch die Lüge. Ihr Ministerium produzierte sogar Fakes wie dieses, um Migrant_innen durch die vermeintliche Website einer in Wirklichkeit nicht existierenden Organisation die Aussichtslosigkeit einer Bootspassage vor Augen zu führen, und übte zugleich Druck auf reale zivilgesellschaftliche Strukturen aus, um die Verbreitung von Safety at Sea-Flugblättern in den nordfranzösischen Camps zu verhindern.

Was Patel auch und vor allem formulierte, war so etwas wie eine konservative Utopie jenseits des internationalen Rechts. Für sie war nicht nur das britische Grenz- und Migrationssystem zerbrochen, sondern das globale. Innerhalb dieses global gedachten Rahmens ist ihr Projekt zu sehen, Channel migrants nach Ruanda zu transportieren, gleich woher sie kamen und was sie wollten. Ruanda war für sie aber auch das Modell eines neuen globalen Migrationssystems, das auf dem Outsourcing der eigenen nationalstaatlichen Pflichten auf Vertragsstaaten in einem beliebigen Teil der Welt basieren sollte. Patel dachte Ruanda im Plural. Als sich die Regierungskrise um Boris Johnson im Frühsommer zuspitzte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den ersten und bislang einzigen Deportationsflug untersagte, beharrte sie nicht nur auf den einmal eingeschlagenen Kurs. Sie erklärte vielmehr, mit einer Anzahl weiterer afrikanischer Staaten Verhandlungen über vergleichbare Abkommen aushandeln zu wollen. Nach Johnsons Rücktritt legten sich die beiden aussichtsreichsten Kandidat_innen für dessen Nachfolge, Rishi Sunak und Liz Truss, rasch auf die gleiche Linie fest. Auch Truss denkt Ruanda im Plural.

In ihrem zweiseitigen Brief an Boris Johnson, in dem Priti Patel am 5. September 2022 ihren Rücktritt erklärte und begründete, behandelte sie die Bekämpfung der illegalisierten Migration aus der EU intensiver als jedes andere Politikfeld ihres Ressorts: „Over the last three years, our approach to reforming immigration laws and fixing our broken asylum system has been firm and fair. I know how frustrating the issue of Channel crossings has been. This is how we fully reviewed all aspects of Channel operations covering ‚push backs‘ at sea and military interceptions in the Channel.“

Den Ruanda-Deal beschrieb Patel als so etwas wie ihr politisches Erbe und machte zugleich deutlich, dass es um mehr gegangen sei: „The partnership with Rwanda is part of a wider strategy, which includes domestic reforms to build Greek style reception centres in the UK to detain and remove migrants.“ Noch kurz vor ihrem Rücktritt veröffentlichte Patel ein letztes Werbevideo für den Ruanda-Deal. Wie schon in früheren Videos, erzählt ein Geflüchteter, der offensichtlich kein Betroffener ihrer Ruanda-Politik ist, wie gut es ihm Ruanda gehe. Es war der letzte Tweet Patels vor ihrem Rücktrittsschreiben.

Patels Rücktritt ist kein Schritt in die richtige Richtung. Ihr neuer Projekt, den Ruanda-Deal zu einem System bilateraler Abkommen zu vervielfältigen, folgt nicht nur der konservativen Antimigrations-Agenda, sondern auch der neoliberalen Ideologie. Die Kontrolle über die nationalen Grenzen wird in dieser Denkweise in einer Welt zurückgewonnen, in der es Anbieter und Abnehmer unterwünschter Migrant_innen gibt, die untereinander Modalitäten und Preise aushandeln und voneinander profitieren, aber möglichst nicht mehr durch internationales Recht gebunden sind. Die Aufnahme abgefangener Migrant_innen unabhänbgig von ihrer Nationalität und ihrem Willen wird zur Dienstleistung auf einem radikal deregulierten Markt. Diese Logik passt gut zur künftigen Premierministerin Truss, die sich im Ringen um die wichtigen Stimmen am rechten Rand ihrer Partei als eine neue Margret Thatcher inszenierte.