Im September und Anfang Oktober 2022 wurde der Jungle in Loon-Plage bei Dunkerque einem verstärkten Repressionsdruck ausgesetzt: Der Turnus von Räumungen wurde beschleunigt, die Lebensverhältnisse und die gesundheitliche Situation verschlechterten sich, zivilgesellschaftliche Hilfe wurde sabotiert. Der zeitliche Beginn dieses erhöhten Drucks lässt vermuten, dass es sich um eine Antwort der Polizeibehörden auf die Gewalt und die Morde handelt, deren Schauplatz das Camp am 30. August und 6./7. September 2022 gewesen war (siehe hier, hier und hier).
Ein Spiegel dieser Entwicklung sind die regelmäßigen Berichte der Human Rights Observers. Anfang Oktober wies die Gruppe auf den veränderten „Rhythmus der Zwangsräumungen im Raum Dunkerque“ hin: „Zwei groß angelegte Zwangsräumungsaktionen fanden statt, eine in dieser und eine in der letzten Woche. Immer mehr Schikanen, immer mehr Diebstähle von persönlichen Sachen, und das alles, während der Winter näher rückt.“ Mit den Räumungen verbunden war die Platzierung von Betonblöcken, „um den Zugang für Fahrzeuge (Verteilungsorganisationen, Rettungsdienste…) zu verhindern“. Hinzu kam die Abholzung von Vegetation, die den Bewohner_innen ein „bisschen Privatsphäre und Schutz vor dem Wetter“ geboten hatte.
Kurz zuvor, am 27. und 28. September, hatte die Menschenrechtsgruppe Räumungen an zwei aufeinander folgenden Tagen dokumentiert. Auch dabei wurden behelfsmäßige Unterkünfte, improvisierte Geschäfte und Vegetation zerstört. Mehrere andere Organisationen, die on the groud tätig sind, machten vergleichbare Beobachtungen (siehe zusammenfassend InfoMigrants).
Insgesamt beobachteten Human Rights Observers im September neun Räumungen. Verbunden waren sie mit der üblichen Wegnahme von Zelten, Planen, Schlafsäcken und anderem privatem Eigentum im Umfang von „mindetens einem vollen Müllcontainer“. Die neun Räumungen im September bedeuten mehr als eine Verdopplung gegenüber den Vormonaten. In den Monaten Januar bis August 2022 hatten Human Rights Observers durchschnittlich drei bis vier (mindestens eine und höchstens sechs) Räumungen pro Monat dokumentiert. Bis Anfang Oktober stieg ihre Zahl auf 38, danach scheint sich der Rhythmus der Räumungen wieder ‚normalisiert‘. Aber was bedeutet Normalität in einem solchen Kontext?
Da die Bewohner_innen nach den Räumungen – entweder unmittelbar oder nach einem Zwischenaufenthalt in einer Unterbringungseinrichtung – auf das zerstörte Gelände zurückkehren, schlagen Zahl, Umfang und Taktung solcher Polizeioperationen unmittelbar auf die ohnehin miserablen Lebensbedingungen durch.
Für die rund 700 Bewohner_innen des Jungle schafft die Reaktion auf die Gewaltakte von August/September daher keine Sicherheit, sondern erhöht ihre Unsicherheit, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Platzierung der Betonbarriere sperrt die Bewohner_innen buchstäblich von einer schnellen Rettung im Notfall ab. Es ist nicht das erste Mal, das so etwas geschieht. Aber nun ist es angesichts mehrerer Todesfälle und schwerer Gewaltakte geschehen, deren Ursachen fortbestehen.
Als weiteres gravierendes Problem erweist sich die mangelnde Trinkwasserversorgung. Während die Behörden sich einer solchen Versorgung weiterhin verweigern (siehe hier), richteten zivilgesellschaftliche Akteure eine improvisierte Versorgung mit Hilfe von Containern ein. Die Errichtung der Betobarriere zwang die lokale Initiative Roots nun, zwei ihrer vier Behälter an eine andere Stelle zu versetzen, um sie weiter befüllen zu können.
Am 19. Oktober 2022 prangerte auch Médecins du Monde das Fehlen solcher grundlegender Ressourcen an. Nach den Beobachtungen der Mediziner_innen hat der mangelnde Zugang zu Wasser inzwischen „schwerwiegende gesundheitliche Folgen“. So beobachtet die Organisation einen „starken Anstieg der dermatologischen Erkrankungen, darunter Krätze“. Diese könnten ohne Zugang zu Wasser „nicht behandelt werden und werden nur noch schlimmer. Die Organisationen, die als einzige in der Lage sind, diesen Zugang zu ermöglichen, werden jedoch durch Zementblöcke daran gehindert.“