Am 7. Februar 2022 besetzten Aktivist_innen zwei Gebäude in Calais, um Exilierten eine menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen und einen Raum für gemeinsames solidarisches Handeln zu eröffnen. Nach der Räumung des größeren Gebäudes – eines Hochhauses in einem Außenbezirk der Stadt – blieb das andere bestehen (siehe hier, hier und hier). Nun ist seinen Nutzer_innen ein juristischer Erfolg gelungen, der es ihnen erlaubt, das Projekt für die Dauer von drei Jahren fortzuführen. Allerdings war das Gerichtsverfahren von Festnahmen und Abschiebungen begleitet und kann noch angefochten werden.
Als wir das Haus, einen Altbau in der Rue Frédéric-Sauvage in der Innenstadt von Calais, im Frühjahr 2022 besuchen durften, war der Ausgang des Verfahrens noch offen. Aufgrund zersplitterter Eigentumsverhältnisse war das ehemals noble Gebäude über Jahre hinweg verrottet. Die Renovierung des Hauses war im Gange: Der Hof und die Gemeinschaftsküche diente als Treffpunkt der Nutzer_innen unabhängig von Nationalität und Status; eine provisorische Infrastruktur war installiert worden, obschon kein elektrischer Strom zur Verfügung stand. Im Inneren des Gebäudes waren Wohn- und Schlafbereiche für ein paar Dutzend Exilierte entstanden, die somit nicht mehr im Freien leben mussten und ständigen Räumungen ausgesetzt waren.
Das Verhältnis zu Eigentümer_innen chargierte, so erfuhren wir, zwischen einem gewissen Wohlwollen und der Furcht, gegebenfalls rechtlich haften zu müssen. Die konservative Bürgermeisterin instrumentalisierte diese Befürchtungen und nutzte außerdem Beschwerden einiger Anwohner_innen, um politisch und juristisch gegen das Projekt vorzugehen.
Ende April wurde dann ein britischer Aktivist festgenommen, wochenlang inhaftiert, abgeschoben und mit einem Einreiseverbot belegt, nachdem ihm ohne sein Wissen das Aufenthaltsrecht für Frankreich entzogen worden war – eine Konstellation, die erst durch den Brexit möglich ist. Die Umstände seiner Abschiebung lassen vermuten, dass das Vorgehen der Behörden politisch motiviert war (siehe hier). Während des Gerichtsverfahrens um eine mögliche Räumung des Hauses sollte sich ein solcher Fall wiederholen.
Über das Grichtsverfahren und seinen positiven Ausgang haben sich die Nutzer_innen des Hauses bislang nicht öffentlich geäußert, sodass wir lediglich auf die Berichterstattung der lokalen Medien zurückgreifen können. Demnach hatten Eigentümer_innen auf Räumung geklagt. Das Calaiser tribunal d’instance, vergleichbar mit einem deutschen Amtsgericht, setzte eine erste Anhörung auf den 29. März fest, die dann mehrmals verschoben wurde. Als der Termin am 23. August stattfand, wurden mehrere Aktivist_innen und Exilierte nach der Verhandlung festgenommen. Einer der Festgenommen, ein britischer Aktivist, wurde unter ähnlichen Umständen wie derjenige im April/Mai nach Großbritannien abgeschoben. Da die Anwältin der Nutzer_innen im weiteren Verlauf des Verfahrens die Zuständigkeit des Gerichts bestritt, wurde der Fall auf den 27. September vertagt und schließlich am 25. Oktober verhandelt. Das Gericht entschied schließlich einen Aufschub der Räumung für die Dauer von drei Jahren. Es begründete seine Entscheidung damit, dass kein Einbruch stattgefunden habe und das Wohngebäude verlassen gewesen sei. Die Lokalzeitung Nord Littoral zitiert Richter Charles Drapeau mit der Einschätzung, dass es sich um einen „sehr komplexen“ Fall gehandelt habe, der zudem politisch belastet gewesen sei. Er sei sich dessen bewusst gewesen, „aber es ist eine rechtlich fundierte Entscheidung“.
Das Haus kann damit bis 2025 legal weiter genutzt werden, allerdings hat die Gegenseite noch die Möglichkeit, die Gerichtsentscheidung anzufechten. Zugang zu elektrischem Strom existiert noch immer nicht. Inmitten der hostile environment des nordfranzösischen Grenzraums ist das Haus dennoch ein würdevoller Ort.