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Calais Solidarität

Zweites besetztes Haus vorläufig geschützt

Das besetzte Haus in der Calaiser Innenstadt. (Foto: Calais Logement pour Tous.tes)

„Gute Nachrichten: Gestern Morgen kam ein Gerichtsvollzieher an dem Haus in der Rue F. Sauvage vorbei, stellte die Personalien der Bewohner_innen fest und nahm die Beweise für die Besetzung mit, die ihm übergeben wurden!“ Mit dieser Mitteilung gab das Kollektiv Calais Logement pour Tous.tes am 19. Februar 2022 einen wichtigen Etappenerfolg seines Vorhabens bekannt, einen offenen Raum für Geflüchtete und Aktivist_innen in Calais zu schaffen. „Wir sind jetzt vor einer Räumung im Morgengrauen mit einem Hubschrauber sicher, und das normale Verfahren wird eingeleitet.“

„Was für viele Menschen wie Alltagsleben erscheinen mag, ist in Calais ein radikales politisches Projekt“

Aus einer Eklärung der Besetzer_innen

Der sieben Jahre lang unbewohnte Altbau in einem Stadterweiterungsviertel des 19. Jahrhunderts ist eines der beiden Gebäude, die Anfang Februar zeitgleich von linken Aktivist_innen besetzt worden waren (siehe hier). Während das größere Gebäude – ein zehnstöckiges Hochhaus in der westlichen Peripherie der Stadt – am 19. Februar von einer Spezialeinheit der Polizei von einem Helikopter aus geräumt wurde (sehe hier), hat dieses kleinere Gebäudes in der Rue Frédéric Sauvage nun einen gewissen Schutz erlangt.

Nach französischem Recht ist eine polizeiliche Räumug nur in flagranti zulässig. Dauert eine zu Wohnzwecken durchgeführte Besetzung länger als 48 Stunden an, so muss der Eigentümer einen gerichtlichen Räumungstitel erwirken, was den Besetzer_innen umgekehrt Zugang zu einem gerichtlichen Verfahren eröffnet, durch das sie eine Räumung vorerst abwenden können. Hierfür ist es erforderlich, dass ein Gerichtsvollzieher die eingangs genannte Beweiserhebung und Identitätsfeststellung durchführt. Während dies im Fall des besetzten Hochhauses schlicht nicht gemacht wurde und die Polizei das Haus stattdessen in eine Art Belagerungszustand hielt, bis ein Spezialkommando es von einem Hubschrauber aus räumte, ist dieser wichtige Zwischenschritt in der Rue Frédéric Sauvage nun erfolgt. Die Gefahr einer Räumung ist damit bis auf weiteres abgewendet.

In einer bereits früher veröffentlichten Erklärung (voller Text siehe hier) beschreiben die Besetzer_innen ihre Aktion als Antwort auf die von Polizeigewalt, Rassismus und Entmenschlichung geprägten Situation der Exilierten. Über ihre Vorstellungen zur Zukunft des Hauses heißt es: „Das Haus hat begonnen, zu einem Lebensort für Menschen unabhängig von ihrer administrativen Situation zu werden, und wir arbeiten an der Schaffung eines würdevollen, kollektiven, autonomen und sicheren Raumes, wie er in Calais so dringend benötigt wird. Wir wollen, dass dieser Ort ein offener Raum wird, in dem der administrative Status keinen Einfluss auf die Fähigkeit einer Person hat, in Würde zu leben, Solidarität zu erfahren und ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf, wir wollen, dass es ein Zuhause wird, wo alle Bewohner_innen ein Bett haben und duschen können, sich politisch organisieren können, einander unterstützen und sich miteinander verbinden können, für sich selbst und für andere kochen können, ihre Kleidung waschen können, Leute treffen und Freunde einladen können, medizinische Hilfe und rechtliche Unterstützung erhalten können, ausruhen, wachsen, lesen, malen, lernen, spielen, Party feiern und vieles mehr können. Was für viele Menschen wie Alltagsleben erscheinen mag, ist in Calais ein radikales politisches Projekt – in einer segregierten Grenzstadt, in der selbstorganisierte und horizontale Lebensräume von displaced persons und solidarischen Leuten fehlen.“

Dass die Schaffung schlichter Alltagsnormalität in Calais als radikales Projekt erscheint, sagt viel darüber aus, wie weit die Denormalisierung des gesellschaftlichen Zustandes und der rechtlichen Norm dort, im Vorfeld der Grenze, inzwischen fortgeschritten ist. In einer Reportage über die Renovierung des Hauses beschreibt Louis Witter, freier Journalist aus Calais, wie nun Schritt für Schritt eine solche Alltagsnormalität rekonstruiert wird. In Calais, so zitiert er zwei Aktivistinnen, stehe jedes zehnte Haus leer, während die Behörden ihre Möglichkeiten, diese wieder in Wohnraum zu verwandeln, nicht ausschöpften, gleichzeitig aber eine regelrechte „Phobie vor Hausbesetzungen“ hätten. Die Besetzung könne das Problem, würdevollen Raum für die vielleicht 1.500 obdachlos in der Stadt lebenden Exilierten bereitzustellen, sicherlich nicht lösen, so eine Aktivistin. „Aber wenigstens ist dieses Haus würdig. Würdiger als draußen.“