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Calais

Permanent in flagranti: Räumungen im Winter

Protest von dem Rathaus von Calais. (Foto/Grafik: Faim aux frontières)

Zweiunddreißig Tage lang protestierten abwechselnd rund 50 Menschen vor dem Rathaus von Calais, um die Forderungen sichtbar zu machen, die bereits während des Hungerstreiks in der Kirche Saint-Pierre im Oktober und November 2021 aufgestellt worden waren (siehe hier). Im Kern ging und geht es um ein Ende der permanenten Räumungen zumindest während des Winters, um ein Ende der massiven Beschlagnahmungen und um repressionsfreie Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die einen Großteil der elementaren Versorgung der Camps leisten. Der Protest vor dem Rathaus stand in der Nachfolge des Hungerstreiks und wird, wie das Kollektiv Faim aux frontières mitteilte, nicht die letzte politische Intervention bleiben. Allerdings hat der Protest nicht zu einer Revision der Zermürbungstaktik gegenüber den Exilierten geführt. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers (HRO) in diesem Winter zeigt, dass elementare Recht auf ein menschenwürdiges Leben, insbesondere auf Wohnung und Eigentum, weiterhin massiv und systematisch verletzt werden.

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Räumung in Calais, Januar 2022. (Foto: Human Rights Observers)

Die Räumungen in Calais stellen nach wie vor eine Art verstetigte Rechtsbeugung dar: Durch den 48-Stunden-Turnus der Räumungen können die Behörden jedes Mal für sich reklamieren, die als widerrechtliche Aneignung eines fremden Grundstücks verstandene Bildung eines Camps in flagranti zu entdecken und noch während der Tat zu verhindern, nur dass sie den In-flagranti-Zustand durch die permanente Unterbrechung des prekären Lebensorts selbst immer wieder neu erzeugen und damit verstetigen. Der Missbrauch des Rechts ist offensichtlich, findet aber in einer Grauzone statt, wird von den Innenbehörden gedeckt und konnte bislang nur in Einzelfällen (siehe hier) gerichtlich unterbunden werden.

Allein im Januar dokumentierten HRO in Calais 137 Räumungen, von denen die meisten in flagranti durchgeführt wurden; lediglich bei zweien handelte es sich um Polizeioperationen mit dem Ziel, ein Camp zumindest vorübergehend aufzulösen und die Bewohner_innen formal freiwillig, faktisch aber oft zwangsweise, in temporäre Aufnahmezentren außerhalb von Calais zu bringen. Im Januar wurden nach Beobachtung von HRO mindestens 329 Zelte und Schutzplanen, 55 Decken und Schlafsäcke, 21 Rucksäcke, zwölf Matratzen, ein Mobiltelefon sowie Brennholz und Kleider beschlagnahmt; außerdem wurden 40 Personen festgenommen. Am 2. Januar setzte CRS-Kräfte Tränengas ein, um die Bewohner_innen eines Camps (siehe hier) zu vertreiben; am 12. und 19. Januar umzingelten schwer bewaffnete CRS-Angehörige Exilierte ohne erkennbaren Grund, in einem weiteren Fall wurde beobachtet, wie die Polizei Jagd auf Exilierte machte. Im Einzelfall beobachteten HRO-Teams auch, dass „ein verletzter Bewohner auf Krücken von Polizeibeamten gezwungen [wurde], einen glitschigen Graben zu überqueren“, und ähnliche Vorfälle. Im Februar setzte sich dies erwartungsgemäß fort. So berichtet HRO am 12. Februar, dass binnen fünf Tagen „33 Räumungsoperationen stattgefunden“ haben, „zwölf davon heute Morgen.“

Am gleichen Tag berichtete HRO: „Die Sachen der Exilierten wurden gestohlen und sie ließen sie wie üblich mittellos zurück. Hochgerüstete Sicherheitskräfte beaufsichtigen diese Diebstähle. Die Schikanen durch den Staat gehen immer weiter.“ Die Bezeichnung der Beschlagnahmungen als Diebstähle ist hier weniger eine solidarisch motivierte Polemik, sondern eine von den juristisch geschulten Beobachter_innen seit einiger Zeit bewußt gewählte Formulierung, um die Rechtmäßigkeit der Maßnahme zu bestreiten. Denn auch wenn ein Mensch in flagranti aus seiner Wohnung – und sei es ein Zelt – geräumt wird, darf sein Eigentum nicht einfach weggeschafft werden. „Im Rahmen einer Zwangsräumung ist das Eigentum gesetzlich geschützt und muss, wenn es zum Zeitpunkt der Räumung nicht von den Eigentümern abgeholt wird, von einem Gerichtsvollzieher inventarisiert werden“, kommentierten HRO Anfang Februar eines ihrer Videos. Es dokumentiert exemplarisch, auf welche Weise „das Eigentum von Exilierten in Calais inventarisiert“ wird:

…wie das Eigentum der Geräumten in Calais inventarisiert wird. (Video: Human Rights Observers)

Diese Form der enteignenden und zugleich entwürdigenden Beschlagnahmung markiert die Grenze der geringen Zugeständnisse, zu denen das französische Innenministerium während des Hungerstreiks im vergangenen Herbst bereit war. Eines dieser Zugeständnisse, nämlich eine rechtzeitige Ankündigung von Räumungen, damit die Bewohner_innen ihre Sachen packen und mitnehmen können, wurde nie wirklich umgesetzt und ist praktisch längt vergessen. Ein anderes Zugeständnis betraf die Rückgabe beschlagnahmter Güter. Bereits seit 2018 wurde ein Teil dieser Sachen nicht, wie zuvor, umstandslos als Müll entsorgt, sondern in einen Schiffscontainer gebracht, wo sie zu bestimmten Öffnungszeiten abgeholt werden konnten; betrieben wurde der Container durch La Ressourcerie, einen lokalen Betrieb für soziale Eingliederung. Faktisch wurden die Sachen so nass, schmutzig und durcheinander, wie sie ankamen, in den Container gepackt (siehe hier), allerdings kam das System, das von den Behörden als landesweit einmalige humanitäre Maßnahme dargestellt wurde, aus verschiedenen Gründen zum Erliegen.

Im Zuge des Hungerstreiks kündigte das Innenministerium an, den Container durch ein beheiztes Großzelt an anderer Stelle zu ersetzen, in dem die Sachen getrocknet und sortiert zurückgegeben würden. Nach monatlanger Unterbrechung, in der überhaupt keine Rückgabe möglich war, eröffnete die neue Rückgabestelle von Ressourcerie am 10. Januar 2022. Sie befindet sich in der Rue des huttes im Industriegebiet Zone des dunes neben einer als Nachtunterkunft bei Extremwetter genutzten Halle. Rund um das Gelände, auf dem sich auch eine Anlaufstelle für Wasser, Nahrung und Sanitäranlagen befand, hatten sich vor einigen Jahren mehrere Camps zu einem Jungle mit etwa tausend Bewohner_innen verdichtet. Nach dessen Räumung im Juli 2020 sorgt ein Zaunsystem dafür, dass in diesem Teil von Calais keine Camps mehr entstehen können (siehe hier und hier). Um ihre Sachen zurückzubekommen, müssen die Bewohner_innen der heutigen Camps daher einen langen Weg zurücklegen.

Ein zentrales Argument des Hungerstreiks war die in Frankreich geltende Winterpause, in der keine Zwangsräumungen stattfinden dürfen, und die verhindern soll, dass Menschen in dieser Jahreszeit obdachlos werden. Dieser sogenannte Winterfriede wird in Calais notorisch missachtet, allerdings aktivierten die Behörden während der Periode schwerer, aufeinander folgender Stürme den sogenannten Frostplan. Dieser erlaubt es den Exilierten, während eines eng definierten Zeitraums in der bereits erwähnten Halle zu schlafen. Gleichwohl stellten weder Temperaturen um den Gefrierpunkt, noch stürmisches Wetter im Verlauf des Winters ein Hindernis für die regelmäßigen Räumungen dar. Noch am 16. Februar, als die Sturmperipode bereits begonnen hatte, veröffentlichte HRO folgendes Video:

Räumungen in Calais zu Beginn der schweren Stürme, 16. Februar 2022. (Video: Human Rights Observers)

Aktuell wandte sich HRO an den Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Nils Melzer, der demnächst Frankreich, die Niederlande und Polen besuchen wird, um zu Polizeigewalt zu ermitteln, und der zivilgesellschaftliche Organisationen gebeten hat, Beweismaterial zur verfügung zu stellen. HRO wird diesem Aufruf folgen: „Die britisch-französische Grenze ist gleichbedeutend mit staatlicher Gewalt. Wir beobachten täglich Polizeigewalt und Einschüchterungen gegen Exilierte, aber auch gegen Freiwillige.“

Zusammenschnitt dokumentierter Polizeigewalt, adressiert an den UN-Sonderberichterstatter für Folter. (Video: Human Rights Observers)