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Calais

Eine feindlichere Umwelt

Antimigrantische Raumpolitik in Calais

Calaiser Steinlandschaft mit Blick auf das Rathaus, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Hunderte Exilierte leben obdachlos in der Innenstadt von Calais. Um ihnen die Möglichkeit zu nehmen, Zelte aufzustellen, ließ die Stadtverwaltung im Spätsommer 2022 weite Flächen mit Steinen bedecken. Der Turnus der routinemäßigen Räumungen wurde für diesen Teil der Stadt von zweitäglich auf täglich beschleunigt, sodass auch die Zahl der Räumungen im Jahr 2022 explodierte. Mit den Steinenflächen ist nun im Zentrum der Stadt eine Architektur der Unwirtlichkeit sichtbar geworden, die bislang vor allem in den Randbezirken angewandt wird. Die Calaiser Steinparks lassen sich zugleich als Teil einer zynischen Stadterneuerung deuten, die einerseits eine radikal antimigrantische Agenda umsetzt, andererseits aber die Migration kapitalisiert und mit einer Neuerfindung Calais‘ als touristische Destination einhergeht. Vor diesem Hintergrund blicken wir zurück auf einen Trend, der im Jahr 2022 besonders sichtbar wurde.

Die Quais in der Innenstadt

Sperre an den innerstädtischen Quais, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Der Stadtkern von Calais ist von historischen Quais umgeben, die in den vergangenen Jahren städtebaulich aufgewertet wurden: Grünflächen und sogar eine Anlegestelle für touristische Stadtrundfahrten per Boot wurden angelegt. Derselbe Teil der Stadt dient seit Langem auch als informeller Lebensort von Geflüchteten mit Anlaufstellen zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Verteilung von Lebensmitteln, Wasser und Hilfsgütern.

Die Aufwertung der Quais ging von Anfang an mit der Errichtung von Anlagen einher, die die Nutzung durch die Exilierten erschweren sollten: Zäune und Tore zur nächtlichen Sperrung von Schlafplätzen unter den Brücken, Blaulichtlampen zur Erschwerung des Schlafs, Steinreihen und Betonklötze zur Versperrung der Verteilungsplätze der Hilfsorganisationen. Die zwischen 2020 und 2022 geltenden, inzwischen aber gerichtlich gestoppten, Verbote der Verteilung von Trinkwasser und Mahlzeiten (siehe hier und hier) bezogen sich immer auch auf diesen Teil der Stadt.

Stadtbild von Calais in der Nähe der Quais, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Als die Stadtverwaltung im August und September 2022 zu beiden Seiten der Quasis weitere Steine ablegen ließ (siehe hier), war dies mehr als nur eine Erweiterung der bestehenden Unwirtlichkeit. Diese war bis dahin zwar bereits sichtbar (und für die Betroffenen existenziell spürbar), sprang jedoch nicht unmittelbar ins Auge. Nun aber beherrschen die Steine allein durch ihre schiere Zahl das Bild dieses Teils von Calais. Uns selbst wurde diese visuelle Wucht erst bewusst, als wir die Steinlandschaften mit eigenen Augen sahen und sie in ihrem vollen Ausmaß durchquerten.

Ein kleiner Teil der Steinsetzungen in Calais, November 2022. (Video: Th. Müller)

Die Journalist_innen der Lokalzeitung La voix du Nord scheinen die Steine ähnlich erlebt zu haben: „Erst wenn man die Zahlen sieht, wird einem die Absurdität der Situation bewusst.“ Das Blatt errechnete, dass „nur auf einigen hundert Metern“ zwischen Quai du Danube und Place de Norvège mehr als 600 Steine mit einem ein Gewicht von schätzungsweise 800 bis 1.000 Tonnen verteilt wurden. Die Kosten der Steinsetzungen lagen bei etwa 45.000 €. Die Steine überziehen absurderweise sogar einen Teil der parkartig gestalteten Grünflächen, die zur Verschönerung angelegt worden waren.

Steinsetzung anstelle einer Parkanlage, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Es sind dieselben Steine, wie sie auch für den Küstenschutz verwendet werden, so als ginge es auch hier um den Kampf gegen eine Flut. Alle Steine wurden in einem einheitlichen Abstand zueinander angeordnet, der es unmöglich macht, zwischen ihnen ein Zelt aufzustellen.

Nach Ansicht unserer lokalen Gesprächspartner_innen war die Sichtbarkeit der Exilierten und ihrer Zelte an den Quais ein wesentliches Motiv für die brachiale Maßnahme. Die Menschen, um deren Verdrängung aus der Innenstadt sich die konservative Bürgermeisterin seit 2008 bemüht, lagerten in Sichtweite des Rathauses und des Bahnhofs. Die Stadtspitze hat also entschieden, dass Besucher_innen lieber eine antimigrantische Zwecklandschaft sehen sollen als ein Camp. Sie hat zu diesem Zweck sogar einen Teil ihrer städtbaulichen Aufwertung der Vorjahre geopfert und für die Exilierten eine noch feindlichere Umwelt geschaffen, als es bereits der Fall war.

„Seit mehr als zwanzig Jahren der Krise zeigt sich, dass nichts die Migranten auf ihrem Weg nach England aufhalten kann. Wie weit werden wir als Antwort gehen? Wie wird Calais in zwanzig Jahren aussehen?“, kommentierte La voix du Nord die Vervielfältigung der Steine. Schon jetzt ist es nicht schwer, sich die Ausweitung der Steinlandschaft auf weitere Flächen an den Quais vorzustellen, sollten dort neue Camps sichtbar werden.

Ein kleines Camp hinter einer Mauer in der Nähe der Quais, November 2022. (Foto: S. Zinflou)

Bei unserer Recherche im Mitte November 2020 schätzten lokale Initiativen, dass ungfähr 800 Geflüchtete im Bereich der Quais lebten. Nur vereinzelte Zelte und Schutzplanen waren am Rand der Steinlandschaften sichtbar. Die meisten Menschen lebten unter den Brücken, in angrenzenden Straßen und diversen Gebüschen. Als der lokale Verein Salam am späten Vormittag warme Getränke und etwas Brot ausgab, bildete sich in kurzer Zeit eine Schlange von mehr als hundert Menschen. Es war die zweite von drei regelmäßigen Verteilungen der Organisation, und es war unklar, ob für die dritte Verteilung noch genügend Brot zur Verfügung stehen würde.

Im Januar 2023 meldete l’Auberge des Migrants, eine andere lokale Hilfsorganisation, den Abbau eines Trinkbrunnens. Der Brunnen war der einzige permanent erreichbare Zugang zu Trinkwasser an den Quais. An seiner Stelle steht nun ein kleiner Blumenkübel.

Ersetzung eines Trinkbrunnens durch einen Blumenkübel, Januar 2023. Fotos: L’Auberge des Migrants.

Die Peripherie

Auch in der Vergangenheit wurden bereits Steinbarrieren errichtet, um Camps unbenutzbar zu machen oder die Verteilung von Hilfsgütern zu verhindern. Allerdings geschah dies in kleinerem Umfang und vor allem in abgelegenen Randgebieten der Stadt (siehe etwa hier, hier, hier und hier). Keine dieser Anlagen war auch nur annähernd so groß, so zentral gelegen und so sichtbar wie die oben beschriebene.

Die Errichtung antimigrantischer Architekturen begann in Calais um die Jahrtausendwende und basierte lange Zeit vor allem mit Zäunen, deren Gesamtlänge heute auf 70 Kilometer geschätzt wird. Während eine ältere Generation von Zäunen Migrant_innen daran hindern soll, sich dem Kanaltunnel, dem Fährhafen und den dorthin führenden Autobahnen anzunähern, entwickelte sich in den ausgehenden 2010er-Jahren ein neues System von Zäunen, das die Entstehung von Camps verhindern soll, indem es den Räum für das Aufstellen der Zelte entzieht. Diese zweite Generation der Zäune erfüllt dieselbe Funktion wie die Steinsetzungen an den Quais.

Zaunanlage der älteren Generation: Verhinderung des Zugangs zum Fährhafen. (Foto: Th. Müller, April 2016)

Die größte dieser Zaunanlagen entstand von 2017 bis 2020 im Gewerbegebiet Zone des dunes. Auf einer Fläche von etwa zwei Kilometern Länge und etwa einem halben Kilometer Breite sperren hohe Zäune systematisch alle brach liegenden Flächen ab, die nicht bereits von ihren Eigentümer_innen gesichert sind. Die Straßen sind nun von robusten Metallzäunen mit aufgesetztem Klingendraht gesäumt. Das Gebiet besitzt eine in die 1990er-Jahre zurückreichende Geschichte migrantischer Nutzung und antimigrantischer Maßnahmen, u.a. hat der emblematische Name Jungle von Calais hier seinen Ursprung. Mit der Schließung der letzten Lücken dieser Zaunarchitektur wurden im Juli 2020 die in der Zone des dunes verbliebenen Camps geräumt, die zuletzt zu einem neuen Jungle mit etwa 1.000 Bewohner_innen zusammengewachsen waren (siehe hier und hier). Die Zaunanlage beendet diese Gesichte jedoch nur scheinbar.

Zaunanlage der jüngeren Generation: Verhinderung des Zungangs zu möglichen Flächen für Camps. (Foto: Th. Müller, August 2020)

Im selben Gebiet, an der Rue des huttes, existierte eine von der Präfektur mitbetriebene Anlaufstelle mit Zugang zu Trinkwasser, Nahrung und Sanitäranlagen. Während die Menschen mit enormem baulichem und finanziellem Aufwand aus der Zone des dunes verdrängt wurden, blieb diese Anlaufstelle als Anziehungspunkt bestehen. Und mehr noch: Das Verbot der unabhängigen Verteilung von Trinkwasser und Mahlzeiten in weiten Teilen der Stadt erhöhte ihre Bedeutung noch. Die Rue des huttes wurde damit zu einem paradoxen Ort, der Migrant_innen gleichzeitig ausschließt und versorgt. Während die Hilfe im Umfeld der Camps durch Zäune, Steine und Verbote behindert und kriminalisiert wurde, wurde sie in Distanz zu den Camps verortet und institutionalisiert.

Ein Teil derselben Zaunanlage, etwa einen Kilometer von der obrigen Stelle entfernt am Ort eines geräumten Camps. (Foto: Th. Müller, Mai 2019)

Die Rue des Huttes wird inzwischen von drei ähnlichen humanitären Anlagen gesäumt, die jeweils unter staatlicher Regie entstanden: (a) der schon erwähnten Anlaufstelle für Wasser und Nahrung, (b) einer als Nachtunterkunft dienenden Halle und als jüngste Anlage (c) einem hallenartigen Zelt, in dem Geflüchtete die Gegenstände abholen können, die bei den wiederkehrenden Räumungen beschlagnahmt werden.

Anlaufstelle für die Rückgabe beschglagnahmter Güter an der Rue des huttes. (Foto: S. Zinflou)

Gemeinsam ist diesen drei Anlagen, dass sie jeweils nur ein begrenztes Maß an Hilfe bereitgestellen: Die Menge des Wassers und der Nahrung deckt den Bedarf nicht, die Nachtunterkunft öffnet nur bei extremer Kälte, und nur ein Teil der beschlagnamten Güter gelangt überhaupt in die Rue des huttes. Zäune, Schleusen, Öffnungszeiten und andere Regularien begrenzen die Rückgabe zusätzlich. So fanden wir die Anlage für beschlagnahmte Güter an mehreren Tagen geschlossen vor. In Gesprächen mit lokalen Initiativen erfuhren wir, dass die Öffnungszeiten seit längerem nicht eingehalten werden. Auch wird es Organisationen verwehrt, dort die von ihnen selbst verteilten Zelte wieder abzuholen. Stattdessen müssten die Geflüchteten persönlich erscheinen.

Camp an der Rue des huttes, November 2022. (Foto: S. Zinflou)

Genau hier, in der Rue des huttes, bestand im Herbst 2022 wieder ein Camp – buchstäblich auf dem schmalen Grat zwischen Zäunen und Fahrbahn. Anfang Dezember wurden auch hier Steine aufgereiht, die den verbliebenen Raum für das Aufstellen eines Zelts entziehen. Die Maßnahme kostete nach Medienberichten weitere 40.000 € und wurde mit der Sicherheit der Exilierten begründet – weil sie durch rangierende Lastwagen angrenzender Firmen gefährdet seien.

Steine an der Stelle eines Camps am Rand der Rue des huttes, Dezember 2022. (Foto: Auberge des migrtants)

Auch für einen anderen informellen Lebensort am Rand von Calais wird die Lage schwieriger: das Camp Old Lidl. Es befindet sich in der Nähe des Gewerbegebiets Transmarck, wo sich vor allem Unternehmen für die Abwicklung des Frachtverkehrs nach Großbritannien angesiedelt haben und weiter ansiedeln. Transmarck expandiert auf das Camp zu, auf dessen entgegengesetzter Seite nun Amazon baut und ein neuer, durch Zäune gesicherter Gleisanschluss geschaffen wurde. Das Camp wird damit von zwei Seiten eingeengt und dürfte bei einer weiteren Ausdehnung des Gewerbegebiets ganz geräumt werden. Bereits Ende 2021 wurde die Zufahrt durch eine Kombination aus einer Steinreihe, einem Wall und einem Graben versperrt, sodass die Hilfsorganisationen nicht mehr auf das Gelände fahren können (siehe hier und hier).

Barriere an der Einfahrt zum Camp Old Lidl, März 2022. (Foto: S. Zinflou)

Ende 2022 folgte eine weitere Steinbarriere dieser Art. Sie befindet sich einige hundert Meter entfernt an der Rue de Judée, einer Straße, die von mehreren Camps fußläufig erreichbar ist und daher ein neutralgischer Punkt für den Zugang zu solidarischen Akteur_innen ist: „Es ist ein Bereich für die Verteilung von Lebensmitteln, aber auch eine Aufladestation für Telefone und ein bevorzugter Ort für die Kleiderspenden der Vereinen“, so das Calais Food Collective. Im Januar 2023 stellte die Gruppe fest, dass ein Trinkwassertank demontiert war, den sie bis dahin täglich befüllt hatte. Neben dem Entzug von Raum dienst auch hier der Entzug von Wasser als Hebel, um Unwirtlichkeit zu produzieren.

Die Strandpromenade

Die Stadtspitze etablierte in den 2010er-Jahren das Narrativ einer Stadt im Würgegriff des Jungle. Ein wichtiges Element dieses Opfermythos war die Klage, dass Tourist_innen wegen der Exilierten nicht mehr in die ökonomisch angeschlagene Stadt kämen. Dieses Narrativ ging an der ökonomischen Realität vorbei, die wesentlich komplexer war. Die wirtschaftlichen Probleme waren u.a. Folge eines verpassten Strukturwandels; durch die Eröffnung des Kanaltunnels erübrigten sich Zwischenübernachtungen von Reisenden; die Tristesse der Stadt wirkte abschreckend auf Tourist_innen. Umgekehrt generierte der Jungle, in dem 2015/16 zwischen 5.000 und 10.000 Exilierte lebten, eine Vielzahl von Übernachtungen (etwa von Freiwilligen und Polizeikräften), verbunden mit zusätzlichem Konsum und medialer Aufmerksamkeit. Die konservative Bürgermeisterin nutzte die Situation, um staatliche Fördermittel für eine Kompansation des vermeintlichen Schadens einzufordern. Die Stadt begann sich zu modernisieren, indem sie ihre Funktion als Vorfeld der britischen Grenze ausübte, an der Schaffung einer abschreckenden Umwelt für die Migrant_innen aktiv mitwirkte und die humanitäre Krise für ihre eigenen Zwecke kapitalisierte.

Skulptur am Strand von Calais mit den Entfernungen zu den Hauptstädten aller Länder, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Diese Transformation der Stadt lässt sich am besten am Strand besichtigen. Vor wenigen Jahren erstreckten sich dort, vor tristen Appartmentblocks, ausgedehnte Parkplätze mit einigen Imbissbuden. In den letzten Jahren erfolgte ein touristischer Umbau, der den Eindruck erweckt, als seien so viele Attraktionen wie nur irgend möglich angeschafft worden: als Höhepunkt eine fahrbare Drachenskulptur mit einer eigens für sie errichteten Großhalle. Migration ist in diesem Setting nicht mehr sichtbar, lediglich ein älteres Banksy-Mural erinnert an die tödlichen Folgen der Grenzpolitik. Auf einer Tafel wird darauf hingewiesen, dass der französische Staat allein während der zweiten Projektphase 11.9 Millionen € und die Région Hauts-de-France 2,7 Millionen € bei einem Gesamtvolumen von knapp 15,9 Millionen € finanziert haben. Der Anteil der Stadt war marginal.

Die touristische Neuerfindung Calais erzeugt den Eindruck, als gäbe es ein Happy End. Tatsächlich jedoch zeigt sie, wie sehr Grenz- und Stadtpolitik inzwischen verflochten sind und wie sehr die in diesem Text beschriebenen Orte einander bedingen. Dies löst die humanitäre Krise nicht, sondern verfestigt ihre Struktur.