Über ein Sicherheitsdfizit im Zentrum der sekuritisierten Grenze
Am späten Nachmittag des 20. Februar 2023 zog ein Nebel über das Gelände des Jungle von Loon-Plage und löste bei zahlreichen Geflüchteten gesundheitliche Beschwerden aus. Der Nebel war bei einem Industrieanfall freigesetzt gesetzt worden und erwies sich im Nachhinein nicht als lebensbedrohlich. Aber was wäre gewesen, wenn es sich um ein aggressiveres Gemisch gehandelt hätte? In dem Camp fehlten grundlegende Voraussetzungen für eine angemessene und schnelle (Selbst-) Hilfe, und zwar infolge der antimigrantischen Routinen der Behörden. Der Zwischenfall in Loon-Plage wirft daher ein Schlaglicht auf ein sonst wenig beachtetes Risiko dieser hochgradig präkarisierten Lebensorte.
Was war geschehen? In einer Industrieanlage namens IndaChlor, die chlorhaltige Anfälle der Kunststoffindustrie zwecks Weiterverwertung zu Salzsäure verarbeitet, war es zu einer unbeabsichtigten Entgasung von Chlor und Salzsäure gekommen. Die dabei freigesetzte Wolke bewegte sich mit dem Wind auf das etwas mehr als einen Kilometer entfernte Camp zu und breitete sich nebelartig über das Areal aus.
Nach Angaben der Zeitung La Voix du Nord wurde gegen 16 Uhr ein Alarm gegeben, als Bewohner_innen des Camps spürten, dass etwas nicht stimmt: „Mit brennenden Augen klagten sie über Reizungen und Atembeschwerden. Die Rettungskräfte stellten schnell fest, dass eine Wolke aus einer unbekannten Substanz in das Lager eingedrungen war, ein großer weißer Teppich, der in Bodennähe schwebte.“
Auf den Alarm folgte offenbar eine chaotische Situation. Amélie Moyart, die als Koordinatorin für Utopia 56 arbeitet und während des Geschehens anwesend war, berichtete dem Onlinemedium InfoMigrants, dass Polizeibeamte zunächst gerufen hätten: „Wir evakuieren, wir evakuieren. Wir bleiben nicht hier, es ist gefährlich.“ Bis zum Eintreffen der Feuerwehr sei jedoch „keine Evakuierung eingeleitet“ worden. In einem Tweet (siehe oben) wirft Utopia 56 der Polizei vor, sie habe die Evakuierung des Geländes lieber den freiwilligen Helfer_innen überlassen wollen, als das Gelände selbst zu betreten.
Schließlich trafen, so La Voix du Nord, rund 50 Feuerwehrleute mit Spezialteams für chemische Risiken und Mediziner_innen des Rettungsdienstes SAMU ein, während die Polizei einen Sicherheitskordon einrichtete. Betroffene Bewohner_innen des Camps wurden vor Ort untersucht, aber niemand musste ins Krankenhaus gebracht werden. Gegen 18 Uhr konnten weitere Gefährdungen ausgeschlossen werden und der Einsatz wurde beendet. Allerdings, so Amélie Moyart, habe Utopia 56 am folgenden Tag einen Mann mit gesundheitlichen Beschwerden angetroffen. Dies könne ein Hinweis darauf sein, dass Bewohner_innen es aus Furcht vor den Behörden vermieden haben könnten, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen.
Was jedoch vor allem ins Gewicht fällt, ist ein anderer Aspekt, auf den ebenfalls Utopia hinweist: „Eine der Empfehlungen nach dem Kontakt mit Chlordämpfen lautet, den Körper und die Kleidung vollständig zu waschen. Trotz wiederholter Anfragen der Vereinigungen gibt es in dem Camp keinen Zugang zu Wasser.“
Dies ist ein strukturelles Problem, das durch die behördlichen Maßnahmen gegen die Camps erst geschaffen wurde. In den Vorläufercamps des Jungle von Loon-Plage, die sich einige Kilometer entfernt in Grande-Synthe befanden, existierte noch 2021 meist ein rudimentärer Zugang zur öffentlichen Trinkwasserversorgung (siehe hier). Seitdem dies nicht mehr gegeben ist, versuchen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen, zumindest regelmäßig befüllte Trinkwassertanks bereitzustellen (siehe hier). Erschwert wird dies, wie auch die Ausgabe von Lebensmitteln und Hilfsgütern, durch die Errichtung einer Barriere aus schweren Betonblöcken auf der jeweiligen Einfahrt in das Camp (siehe hier). Dies hat nicht nur zur Folge, dass Trink- und Waschwasser bestenfalls am Rand eines Camps oder in seiner Umgebung verfügbar ist. Die Betonblöcke bewirken auch, dass Rettungsfahrzeuge nicht mehr in das Camp fahren können. Erst nach einer Räumung im Dezember 2022 wies die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers explizit auf diese Gefahr hin (siehe hier und hier). Die Versperrung der Rettungswege erfolgte zudem in Kenntnis der Tatsache, dass es im gleichen Camp seit Mai 2022 mehrmals zu heftigen Gewaltakten mit Verletzten und Toten gekommen war, zuletzt sechs Tage vor dem Industrieunfall (siehe hier).
Das Chlorgas mag sich verflüchtigt haben, aber es hinterlässt das Wissen, dass die zur Schaffung einer möglichst abschreckenden Lebensumwelt im Vorfeld der Grenze eingesetzten Mittel eine effektive Hilfe im Katastrophenfall konterkarieren würden. Inmitten des hochgradig sekuritisierten Grenzraums besteht ein Defizit an Sicherheit.