Mehrere Jahre lang siedelten hunderte Exilierte auf einem Gelände an der Stadtgrenze von Calais, das offiziell unter dem Namen La Turquerie und inoffiziell als Old Lidl bekannt ist. Zuletzt war es der größte informelle Lebensort in Calais und Umgebung. Die meisten Bewohner_innen waren sudanischer Herkunft. Old Lidl war immer wieder Ziel routinemäßiger (Teil-)Räumungen und Beschlagnahmungen; Teile des Geländes wurden unbenutzbar gemacht und humanitäre Arbeit gezielt behindert. Seit 2022 wird das Areal für die Erweiterung des benachbarten Gewerbegebiets Transmarck vorbereitet und seit Jahresbeginn ein Logistikzentrum errichtet. Am 1. Juni 2023 wurde das Camp vollständig geräumt – diesmal mit dem Ziel, es endgültig aufzulösen. Die Räumung geschah einen Tag, nachdem ein Bewohner in Transmarck durch einen Laster tödlich verletzt worden war (siehe hier).
Die Räumung war keine der in Calais üblichen Routineräumungen im Abstand von 48 Stunden, die vor allem auf Zermürbung zielen. Es handelte sich vielmehr um eine sogenannte mise à l’abri-Operation, bei der die Bewohner_innen in Aufnahme- und Lagebewertungszentren (centres d’accueil et d’évaluation des situations; CAES) gebracht werden, die sich grundsätzlich in räumlicher Distanz zu Calais befinden und in denen ihr asylrechtlicher Status geprüft werden soll. In der Lesart der Behörden handelt es sich um freiwillige Unterbringungen zum Schutz der Betroffenen, sodass die Räumungen entsprechend als humanitäre Maßnahmen bezeichnet werden.
Die Räumung war nach Angaben der Präfektur seit Längerem vorbereitet worden. Rechtlich basierte sie auf einem vom Grundstückseigentümer erwirkten Räumungsbeschluss eines Gerichts in Boulogne-sur-Mer. Dies ist das übliche Vorgehen bei vergleichbaren Räumungen in Calais.
In der Lokalzeitung La Voix du Nord findet sich eine Chronologie der Räumung. Demnach riegelte ein Großaufgebot der CRS das Gelände vor 6:00 Uhr weiträumig ab, drang nach und nach in das Areal vor und hielt die Presse fern. Die Operation erstreckte sich zusätzlich auf einen etwa einen halben Kilometer entfernten Platz an der Rue de Judée, der als Anlaufstelle für die Verteilung von Lebensmitteln und andere Hilfeleistungen diente. Für den Zeitpunkt 8:10 Uhr hält der Bericht fest: „Dutzende Migranten marschieren in kleinen Gruppen zwischen den Zeltreihen hindurch, Plastiktüten in der einen und Decken in der anderen Hand, um in die Busse zu steigen. Andere flüchten über die Bahngleise.“ Nach der Abfahrt der Busse habe die Polizei gegen 10 Uhr eine Ortsbesichtigung durchgefüht und einige Messer sichergestellt.
Wie die Präfektur zusätzlich mitteilte, wurden 297 Personen mit Bussen in verschiedene CAES gebracht, die sich in den Departements Aisne, Oise, Somme und Pas-de-Calais befinden. Die Präfektur beschreibt die Verbringung dorthin als eine Art freiwillige Empfehlung, der von fünf Dolmetschern erläutert worden sei. Außerdem seien 30 unbegleitete Minderjährige in Zusammenabreit mit France Terre d’Asile bei ihrer Ankunft in den Unterkünften betreut worden.
Anschließend, so die Zeitung weiter, begann die Zerstörung der Anlage: „Männer in weißen Anzügen machen sich auf dem Gelände bereit. Die Planen werden zerschnitten und die Zelte von ihren Sockeln (Holzpaletten) entfernt. Die Zeit ist gekommen, um das Gebiet zu säubern“. Die Präfektur bestritt später das Aufschneiden der Zelte, obwohl es durch mehrere Fotos dokumentiert ist. Fotos von Reinigungsarbeitern, die in weißen Schutzanzügen Zelte aufschlitzen, teils in Anwesenheit von Camp-Bewohner_innen, hatte 2021 öffentliche Empörung ausgelöst (siehe hier).
Während der Räumung hatten unabhängige Organisationen keinen Zugang zum Camp und zum Platz an der Rue de Judée. Auch die Dokumentation des Geschehens war für sie nur aus der Diszanz möglich.
Die unabhängigen lokalen Organisationen verurteilten die Räumung einhellig und widersprachen der Darstellung der Präfektur in mehreren Punkten.
So bezweifelt die juristisch versierte NGO Human Rights Obervers in einer Erklärung, dass die Räumung überhaupt legal war. „Es handelt sich erneut um eine willkürliche Räumung unter Verletzung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf ein faires Verfahren: Die Entscheidung wird von einem Einzelrichter allein auf Grundlage der Argumente des Grundstückseigentümers getroffen, ohne den dort ansässigen Personen die Möglichkeit zu geben, sich mithilfe eines Anwalts zu verteidigen. Diese als Unterbringung getarnten Abschiebungen sind in Wirklichkeit eine Methode, um Menschen aus Calais zu vertreiben und sind Teil einer politischen Logik, die auf Kosten der Achtung der Menschenrechte zur Schaffung eines feindlichen Umfelds an der französisch-britischen Grenze beiträgt.“
Aus Sicht von Human Rights Observers geschah der Transport in die CAES keineswegs freiwillig. Vielmehr seien die Menschen unter Zwang in die Busse gestiegen. Bei der anschließenden Säuberung des Geländes seien nicht nur, wie von der Präfektur dargestellt, Abfälle entsorgt worden. Vielmehr „beschlagnahmten und/oder zerstörten [die Reinigungskräfte] illegal sämtliche Gegenstände (Telefone, Zelte, Decken, Bänke, Fahrräder usw.), die die Geflüchteten aufgrund des massiven Eintreffens der Ordnungskräfte am frühen Morgen zurücklassen mussten.“ Ein solches Vorgehen wurde auch bei früheren Rämungen dokumentiert.
Médecins sans frontières wies außerdem auf die besondere psychische Belastung der Camp-Bewohner_innen einen Tag nach dem Tod ihres Gefährten Sami hin: „Man kann sich vorstellen, dass die Menschen, die in dem Camp lebten, von diesem Drama schockiert sind. Einige von ihnen müssen die verstorbene Person gekannt haben. Es muss eine potenzielle Trauerarbeit geleistet werden.“ Durch die Räumung werde man daran gehindert, die erforderliche Hilfe zu leisten und mit den Traumatisierten zu sprechen.
Die Unterbringung in den CAES wird für die meisten Betroffenen keinen Ausweg aus den prekären Lebensverhältnissen an der Grenze bieten, sondern ist beispielsweise mit der Gefahr einer Abschiebung auf Basis der Dublin-Verordnung verbunden. „Die Mehrheit der abtransportierten Personen wird nicht in den Unterkünften bleiben und nach Calais zurückkehren, unter immer unwürdigeren Bedingungen“, erklärte Utopia 56 nach der Räumung.
Auch der Platz an der Rue de Judée, auf dem die unabhängigen Organisationen ihre Hilfsangebote bereitstellten, wurde nach der Räumung unbrauchbar gemacht. Er wurde umgepflügt.
Die Räumung des Old Lidl entzieht den Exilierten einmal mehr einen für sie existenziellen Ort. Diejenigen, die aus den CAES zurückkehren oder neu in der Region eintreffen, werden ungünstigere Lebensbedingungen vorfinden, als es sie trotz aller Probleme in Old Lidl gab. Daher sind solche Maßnahmen nicht humanitär, sondern verstetigen die humanitäre Krise.