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Channel crossings & UK

„Am Beginn einer neuen Phase der Kriminalisierung“

Eine Untersuchung zum Umgang der britischen Justiz mit den small boats

Das britische Recht erlaubt seit 2022 in verschärftem Maße die Kriminalisierung von Exilierten, die den Ärmelkanal „illegal“ passieren. Bislang war wenig darüber bekannt, in welchem Umfang und unter welchen Umständen dies tatsächlich geschieht. Eine Untersuchung der Migrationsforscherin Vicky Taylor vom Centre for Criminology der Universität Oxford gibt nun Einblicke in eine lokale juristische Praxis, die sich der politischen Linie der rechtskonservativen Regierung annähert.

Taylors Untersuchung Evidence from courtwatching: documenting the criminalisation of people seeking asylum in the UK erschien auf dem lesenswerten Border Criminologies Blog; sie enstand in Zusammenarbeit mit Captain Support UK und beruht auf der Beobachtung einer Vielzahl erstinstanzlicher Gerichtsverfahren von Februar bis Juni 2023. Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen des im Juni 2022 in Kraft getretenen Nationality and Borders Act (NABA). Das Gesetz weitet den Anwendungsbereich des Strafrechts im Bereich der undokumentierten Migration aus und erhöht das Strafmaß erheblich: Auf vier Jahre für „illegale Einreise“ (gemäß § 24) und lebenslange Haft für „Beihilfe“ (§ 25), wozu bereits das Steuern eines Bootes gezählt wird.

Obschon das Gesetz auf dem Papier die Anklage nahezu aller Bootspassagier_innen (sowie Nutzer_innen anderer Migrationspfade, etwa per Lastwagen) erlaubt, wird es in der Praxis, so Taylor, vor allem gegen zwei Gruppen angewandt: Zum einen gegen Menschen, denen eine wiederholte Einreise vorgehalten wird. Meist durch Fingerabdrücke identifiziert, werden sie nach § 24 wegen „illegaler Einreise“ verfolgt.

Die zweite Gruppe sind Personen, die am Steuer eines Bootes gesessen haben sollen und die nach dem sehr viel schärferen § 25 der „Beihilfe“ beschuldigt werden. Ihre Identifikation beruht meist auf fotografischem Material der Grenzbehörden oder Aussagen von Mitreisenden. Vielfach steuerten Menschen das Boot aufgrund von nautischen Erfahrungen oder unter Zwang. Taylor kommt zu dem Schluss, dass die Beweise der Anklage oft so schwach sind, dass der Straftatbestand der „Beihilfe“ nach § 25 „selten angewandt und oft fallen gelassen wird, sodass nur die Anklage nach § 24 übrig bleibt.“ Sie verweist beispielsweise auf einen Fall, in dem die angeklagte Person sich lediglich in der Nähe des Steuers aufgehalten haben soll.

Aus der Kombination vorliegender Daten und aufgrund eigener Beobachtungen folgert Taylor, dass seit dem Inkrafttreten des NABA im Juni 2022 mehr als 185 Menschen nach einer Bootspassage auf der Grundlage der beiden Paragraphen angeklagt wurden. Dies bedeute, dass „im Durchschnitt etwa eine Person pro fünf oder sechs Boote“ verhaftet werde. Nach Angaben des Innenministeriums seien von diesen Personen 87 beschuldigt, ein Boot gesteuert zu haben, wobei vollständige Daten des Ministeriums bislang nicht vorliegen.

Gleich welche Beschuldigung erhoben wird – sie basiert in der Regel auf Beweismaterial, das binnen kurzer Zeit im Anschluss an die Anlandung, und zwar während der Erstunterbringung im Aufnahmelager Manston, erhoben wird. Für die Festgenommenen dauere das Verfahren „von der See ins Gefängnis“, so Taylor, „weniger als 48 Stunden“. Zahlreiche Umstände beeinträchtigen die Rechte und Möglichkeiten der Betroffenen massiv – bis hin zu Pflichtverteidiger_innen, die zum Eingeständnis der Schuld bei erster Gelegenheit rieten.

In der ersten Phase nach dem Inkrafttreten des NABA beobachtete Talor, dass „wohlwollende Richter“ Vergehen gegen § 24 mit Geld- oder Bewährungsstrafen ahndeten. Allerdings sei eine „zunehmende Annäherung“ an einen Standard von 12 Monaten Haft zu beobachten, der auf informelle Äußerungen eines Richter in Canterbury zurückgehe und keinen offiziellen Charakter habe. „Vielleicht aus Angst, in einem feindseligen politischen Umfeld davon abzuweichen, ist der Rest der Justiz in Kent diesem Beispiel unkritisch gefolgt. Die meisten Personen, die wegen § 24 angeklagt werden, erhalten daher jetzt Freiheitsstrafen zwischen 9 und 12 Monaten (von denen die Hälfte im Gefängnis verbüßt wird).“

In der momentanen britischen Migrationspolitik ist die unabhängige Justiz starken politischen Angriffen ausgesetzt, sofern ihre Entscheidungen nicht im Sinne der Regierung ausfallen. Vor diesem Hintergrund stellt Taylor fest, dass die lokalen Richer_innen ihr Verständnis des Einwanderungsrechts häufig an die politische Linie der Regierung anpassen. Sie zitiert Äußerungen von Richter_innen, die fast wörtlich der Stop the boats-Kampagne der Londoner Regierung entsprechen. „Das Ausmaß, in dem die Rhetorik der Regierung und der rechtsgerichteten Medien das Verständnis der Gerichte für Menschen, die irregulär ins Vereinigte Königreich einreisen, durchdrungen hat, ist offensichtlich.“ Taylor deutet ihre Beobachtungen als „Beginn einer neuen Phase Kriminalisierung“, in der Menschen weitgehend ohne öffentliche Kontrolle und Aufmerksamkeit durch lokale Gerichte inhaftiert werden.