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Calais

Eine Wende im Kampf um Trinkwasser

Einer der wenigen offiziellen Zugänge der Exilierten zu Trinkwasser in Calais, Rue des Huttes, Mai 2023. (Foto: Th. Müller)

Nach einem Rechtsstreit in der Normandie besteht auch in Calais und Dunkerque die Hoffnung, einen menschenwürdigen Zugang zu Wasser juristisch durchsetzen zu können: Der Staatsrat (Conseil d’État) verpflichtete die dortigen Behörden durch seinen Beschluss vom 3. Juli 2023, den Bewohner_innen eines Camps Trinkwasser und Waschmöglichkeiten bereitzustellen. Die Entscheidung dürfte auf die nordfranzösische Kanalküste übertragbar sein. Seit Jahren verknappen die Behörden hier den Zugang zu Trinkwasser und Waschgelegenheiten, um den Lebensalltag der Exilierten abschreckend zu gestalten – und brechen damit die nun vom Staatsrat bestätigten Prinzipien.

Dieselbe Trinwasserstelle in Calais. Sie befindet sich inmitten eines weitläufigen Systems von Zäunen, das die Entstehung von Camps verhindert. (Foto: Th. Müller)

Die in Frankreich landesweit wahrgenommene Entscheidung des Staatsrats verpflichtet die Behörden, den Bewohner_innen des Camps in Ouistreham Trinkwasser und Waschmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, und zwar explizit in unmittelbarer Nähe. Ähnlich wie in Calais und Dunkerque, versuchen Exilierte dort seit den 2010er-Jahren, auf Fähren nach Großbritannien zu gelangen. Das Camp, über desssen Situation nun verhandelt wurde, befindet sich in Reichweite des Fährhafens, ist allerdings sehr viel kleiner als die meisten Camps an der nordfranzösischen Kanalküste.

Der Staatsrat bestätigte in letzter Instanz einen Beschluss des Verwaltungsgerichts in Caen vom 2. Juni 2023. Dieses hatte den Präfekten verpflichtet, in unmittelbarer Nähe des Camps einen Zugang zu Wasser zu schaffen. Die Kläger – sechs betroffene Exilierte mit Unterstützung lokal tätiger Organisationen – hatten argumentiert, dass das Camp bereits seit mehreren Jahren bestehe, fließendes Wasser und Waschgelegenheiten jedoch lediglich in einer Distanz von einem bis zwei Kilometern zugänglich seien. Hinter ihrer Argumentation steht das menschenrechtliche Prinzip, dass der Zugang zu Wasser unabhängig vom Status einer Person gewährleistet sein muss. Als das Verwaltungsgericht den Klägern Recht gab, gingen die Kommune und das Innenministerium in Berufung – und scheiterten nun vor dem Staatsrat.

Dieselbe Trinwasserstelle in Calais. Daneben ein Müllbehälter und Mobiltoiletten. Die Steinbrocken entlang der Rue des Huttes wurden platziert, um ein Camp aufzulösen, das sich am Straßenrand gebildet hatte. (Foto: Th. Müller)

Die Zeitung Libération zitiert aus dem Beschluss des Staatsrats einige Passagen, die sich gut auf die Situation im Raum Calais/Dunkerque anwenden lassen: „Entgegen den Behauptungen der Kommune und des Ministers kann das Vorhandensein öffentlicher Sanitäranlagen, die fast einen Kilometer von der Ansiedlung entfernt sind und deren Wasserstelle das Füllen von Wassertanks nicht ermöglicht […], nicht als ausreichend angesehen werden, um die Grundbedürfnisse in Bezug auf Trinkwasserversorgung und Hygiene zu befriedigen.“

Und: „Solche Lebensbedingungen lassen erkennen, dass die Berücksichtigung der Grundbedürfnisse der anwesenden Migranten […] durch die staatlichen Behörden offensichtlich unzureichend bleibt und einen Mangel offenbart, der geeignet ist, diese Personen in charakteristischer Weise einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung auszusetzen, was einen schweren und offensichtlich rechtswidrigen Eingriff in eine Grundfreiheit darstellt.“

Mehrere in Calais/Dunkerque tätige Organisationen griffen die Entscheidung des Staatsrats auf. Die Dachorganisation Calais Appeal sprach von einem wichtigen „Sieg“ der Geflüchteten von Ouistreham in zwei juristischen Instanzen und kündigte an, nun weiteren Druck auf die Behörden aufzubauen. In einer aktuellen Petition, die von Calais Appel unterstützt wird, fordert die Initiative Water For All / De L’eau Pour Tou-te-s den französischen Umweltminister auf, die Empfehlungen der Vereinten Nationen zum Zugang zu Wasser umzusetzen. Während die Vereinten Nationen den täglichen Wasserbedarf für Trinken, Waschen und Kochen mit 50 bis 100 Litern pro Person ansetzen, stünden Exilierten in Calais pro Tag nur knapp 5 Liter zur Verfügung (Daten von 2021), also maximal ein Zehntel der erforderlichen Wassermenge.

Die in Calais und auf der Balkanroute tätige NGO Collective Aid wies am 24. Juni auf vermeidbare Krankheiten infolge der Wasserverknappung in Calais hin. Denmach ergab eine im November und Dezember 2022 von der Organisation durchgeführte Befragung, dass jede_r Vierte (26,6 %) der Befragten nach eigenen Angaben unter Hautkrankheiten aufgrund des unzreichenden Zugangs zu Wasser leide. „Eine der häufigsten Infektionen“, so Collective Aid, „ist die Krätze (Scabies). Auch wenn sie leicht zu behandeln ist, kann sie ohne regelmäßigen Zugang zu sauberen Duschen und Waschgelegenheiten zu unerträglichen Ausschlägen führen. Jeder hat ein Recht auf sauberes Wasser.“

Eine von mehreren Zugängen zu Trink- und Waschwasser im Jungle von Calais im Jahr 2016, als dort bis zum 10.000 Menschen lebten. Die hier abgebildete Installation befand sich in einem geräumten, aber noch zugänglichen Teil des Geländes. (Foto: Th. Müller)

Die Verknappung des Zugang zu fließendem Wasser und sanitären Anlagen dient in Calais und Dunkerque seit Jahren als Druck- und Steuerungsmittel gegenüber den Camps. In beiden Regionen besteht kein ausreichender Zugang zu Trinkwasser und Waschmöglichkeiten in den Camps oder in deren unmittelbarer Umgebung. 2022 ertrank ein Bewohner an einer improvisierten Waschstelle. Wie in Ouistreham, müssen Geflüchtete in Calais Entfernungen von teils mehreren Kilometern zurücklegen, um zu den wenigen ihnen bereitgestellten Wasserstellen zu gelangen. Eine an der Calaiser Rue des Huttes eingerichtete Wasserstelle befinden sich in einem Gewerbegebiet, das durch ein System von Zäunen weiträumig so umgestaltet wurde, dass dort keine Camps mehr entstehen können. Die vom Staatsrat als unmenschliche Behandlung gewertete Distanz zwischen Lebensort und Wasserzugang wurde durch diese Umgestaltung bewusst und mit hohem Aufwand geschaffen.

Auch zivilgesellschaftliche Organisationen wurden wiederholt daran gehindert, befüllbare Trinkwassertanks am Rand von Camps aufzustellen. Mehrmals wurden Tanks durch Messerstiche sabotiert. Eine Verordnung der Präfektur verbot unabhängigen Organisationen zeitweise explizit, in den relevanten Teilen von Calais Trinkwasser an Exilierte zu verteilen.

Übrigens hatte der Staatsrat die Behörden beriets 2017 in einer Grundatzentscheidung verpflichtet, in Calais einen Zugang zu humanitären Mindestleistungen zu schaffen. Umgesetzt wurde es auf eine denkbar restriktive Weise. Unter anderem gehen die in Diszanz zu den Camps geschaffenen Wasserstellen auf diese Entscheidung zurück. Im Fall Ouistreham hat der Staatsrat nun klargestellt, dass so etwas nicht genügt.