Vor einer Woche startete das Boot mit mindestens 65 Passagieren, dessen Havarie sechs afghanische Männer das Leben kostete (siehe hier). Inzwischen wurden weitere Details über die Ursachen der Havarie und den Verlauf der strafrechtlichen Ermittlungen bekannt.
Festzustehen scheint, dass die Überfahrt von kommerziellen Schleusern organisiert war und die Passagier_innen sich zuvor im Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque befunden hatten. In diesem Camp leben fast ausschließlich Menschen, die auf ihre Überfahrt warten, was jedoch nicht bedeutet, dass die Boote auch vom dortigen Küstenabschnitt aus in See stechen. Der Jungle von Loon-Plage war am 8. August, vier Tage vor der Havarie, zum wiederholten Mal geräumt worden und hatte sich anschließend auf einem benachbarten Gelände neu gebildet.
Die mit den strafrechtlichen Ermittlungen beauftragte Juridiction nationale de lutte contre la criminalité organisé (Junalco; Nationale Gerichtsbarkeit zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität) veröffentlichte am 16. August erste Erkenntnisse. Die Behörde bestätigte, dass die überwiegend afghanischen und zu einem kleineren Anteil sudanischen Passagiere aus dem Raum Dunkerque aufgebrochen waren. Grund für die Havarie sei ein Motorschaden gewesen, auch hätten die Passagiere größtenteils keine Schwimmwesten gehabt.
Unklar bleibt, ob und wieviele Menschen vermisst sind. Am Tag der Havarie war zeitweise von fünf, später von zwei Vermissten gesprochen worden. Inzwischen ist unklar, ob überhaupt Menschen vermisst werden. Die Lokalzeitung La voix du Nord zitiert die Pariser Staatsanwaltschaft mit der Aussage, dass es keine Anhaltspunkte gebe, die eine Antwort auf die Frage nach Vermissten erlaubten. Auch über die Identität der sechs Opfer wurden keine weiteren Informationen bekannt. Ihre Identifizierung werde momentan durch ein forensisches Institut vorgenommen.
Junalco leitete am 16. August eine gerichtliche Untersuchung u.a wegen fahrlässiger Tötung (homicide involontaire) und fahrlässiger Körperverletzung ein. Zusätzlich beziehen sich die Ermittlungen auf den Vorwurf der Beihilfe zu illegaler Einreise und illegalem Aufenthalt sowie Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung. Mit den Ermittlungen sind zwei Ermittlungsrichter betraut.
Gegen vier Personen, die sich seit dem Tag der Havarie in Polizeigewahrsam befinden, wurden noch am 16. August Anklage erhoben. Wie La voix du Nord meldet, handelt es sich um zwei irakische Staatsangehörige, die von der Pariser Staatsanwaltschaft „verdächtigt werden, Teil des Netzwerks illegaler Einwanderer zu sein, das den Transport von Migranten organisiert hat“. Die beiden anderen seien sudanischer Nationalität. Ihnen wirft die Staatsanwaltschaft vor, „sich aktiv an der Beförderung von Passagieren unter gefährlichen Bedingungen gegen einen Vorzugstarif für ihre eigene Überfahrt beteiligt zu haben“. Das Geburtsjahr eines dieser beiden Verdächtigen wird mit 2006 angegeben, es handelt sich also um einen Jugendlichen. Die Fomulierung der Staatsanwaltschaft legt nahe, dass es sich um Überlebende der Havarie handelt.
Die Havarie ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als am Ende einer Schlechtwetterperiode mehrere Tage lang besonders viele Schlauchboote den Ärmelkanal überquerten, darunter 755 Personen in 14 Booten am 10. August. Am Tag der Havarie erreichten 509 Exilierte in zehn Booten Großbritannien, gefolgt von 111 Personen in zwei Booten am 14. August und 444 Personen in acht Booten am 16. August. Durchschnittlich befinden sich damit ungefähr 55 Personen auf einem Boot, wobei die Zahl im Einzelfall deutlich größer sein kann. Auf dem havarierten Boot hatten sich 65 bis 66 Menschen befunden.
Auf beiden Seiten des Ärmelkanals fanden Gedenkveranstaltungen für die Opfer statt, die dabei auch und gerade als Opfer der geltenden Grenzpolitik begriffen wurden. Nach der Zählung der in Calais tätigen Initiativen starben seit der Jahrtausendwende mindestens 376 Menschen.
Die Mehrzahl dieser Todesfälle ereignet sich nicht auf See, sondern im Zusammenhang mit Versuchen, im Strom des Frachtverkehrs nach Großbritannien zu gelangen. Im laufenden Jahr sind bis zum 12. August keine Todesfälle auf See bekannt geworden. Allerdings starben mehrere Exilierte auf dem französischen Festland, teils waren es Suizide. Seit der Zunahme der Bootspassagen im Herbst 2018 ist die aktuelle Havarie diejenige mit den drittmeisten Todesopfern. Die bislang schwerste Havarie mit 31 Todesopfern ereignete sich am 24. November 2021 (siehe u.a. hier), eine weitere mit sieben Todesopfern am 27. Oktober 2020 (siehe hier). Am 14. Dezember 2022 ertranken vier Menschen und zwei galten als vermisst (siehe hier). Die in diesem Jahr noch bevorstehenden Herbstmonate erwiesen sich in der Vergagenheit als die riskantesten.