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Calais Channel crossings & UK

Der Tod vor Calais

Wandbild von Banksy am Strand von Calais. (Foto: Th. Müller)

Die Informationen sind noch lückenhaft. Klar ist aber, dass sich am heutigen 24. November 2021 die bislang schlimmste Havarie auf der Kanalroute ereignet hat. Mindestens 31 Geflüchtete, so hieß es bis zum späten Abend, ertranken nördlich von Calais, mindestens eine weitere Person gilt als vermisst. [Update: Während der Nacht korrigierten die Behörden die Zahl auf 27 Todesopfer.]Während unter den lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Calais Trauer und Wut herrschen, reiste Innenminister Gérald Darmanin nach Calais. Die Regierungschefs Großbritanniens und Frankreichs beriefen Krisensitzungen ein. Hier eine Zusammenfassung der aktuell vorliegenden Meldungen.

„Gegen 14.00 Uhr meldete ein Fischer die Entdeckung von etwa 15 Leichen, die vor der Küste von Calais trieben. Ein Schiff der Marine fischte mehrere Leichen heraus, darunter nach vorläufiger Bilanz fünf Tote und fünf Bewusstlose“, lautet eine Mitteilung des französischen Innenministeriums vom Nachmittag. Ähnlich zitierte die Agentur Reuters einen französischen Fischer mit der Aussage, er habe auf See zwei Boote gesehen, eines mit Menschen und das andere leer. Ein anderer Fischer habe dann den Rettungsdienst alarmiert, als er ein leeres Boot und 15 bewußtlos oder tot im Wasser treibenden Menschen bemerkte. Später berichtete die Regionalzeitung La Voix du Nord, das Boot der Exilierten sei etwa 20 Kilometer nördlich von Calais „von einem großen Schiff, vermutlich einem Containerschiff, gerammt“ worden.

La Voix du Nord dokumentierte per Liveticker, wie sich in den folgenden Stunden herausstellte, dass die Zahl der Todesopfer bedeutend höher lag: Bereits am späten Nachmittag war von über 20, am frühen Abend von über 30 Toten die Rede.

Nach dem Bekanntwerden der Havarie hatte eine groß angelegte Rettungsoperation der zuständigen Leitstelle CROSS Gris Nez begonnen. Wie die Seepräfektur für den Ärmelkanal und die Nordsee mitteilte, wurden dabei drei Rettungsschiffe und zwei Hubschrauber eingesetzt. „Die Prognose einiger Schiffbrüchiger scheint leider lebensbedrohlich zu sein,“ teilte die Behörde am späten Nachmittag mit. Kurz darauf erfuhr La Voix du Nord aus einer Polizeiquelle, dass sich etwa 50 Menschen an Bord des havarierten Bootes befunden haben sollen. Angesichts dieser Lage seien Feuerwehrleute aus der umliegenden Region herbei beordert worden.

Kurz nach 18 Uhr berichtete das Blatt, dass sich ein Konvoi der Feuerwehr zum polizeilich abgeriegelten Quai Paul-Devot am Rande des Hafens von Calais bewege, wo bereits etwa 20 Fahrzeuge der Rettungsdienste und Hafenbehörden anwesend waren. „Die Leichen der Opfer werden allmählich zum Hafen gebracht“, heißt es im Liveticker der Zeitung, und kurz darauf: „Das Schnellboot der SNSM [Seerettungsdienst] kehrte gegen 18.30 Uhr in den Hafen von Calais zurück, im Dunkeln und in völliger Stille. Wie unser Reporter vor Ort berichtet, ist die Stimmung im Hafen bedrückend und die Anspannung auf dem Höhepunkt. Der Bestatter ist gerade vor Ort eingetroffen.“ Die Leichen wurden aus polizeilichen Gründen zunächst auf einem Schiff aufbewahrt und sollen zur Autopsie in das gerichtsmedizinische Institut in Lille überführt werden. Auch Angehörige der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivist_innen waren am Hafen anwesend und protestierten gegen die tödlichen Konsequenzen der britisch-französischen Grenzpolitik.

Nach 19 Uhr zogen die Behörden eine weitere Bilanz und sprachen von 33 Todesopfern, acht Vermissten und einer Person, die sich im Calaiser Krankenhaus in ernster Gefahr befinde. Später gab Innenminister Gérald Darmanin auf einer Pressekonferenz in Calais korrigierte Zahlen bekannt: Demnach seien 34 Personen auf dem havarierten Boot gewesen, von denen 33 gefunden worden seien. Von diesen seien 31 tot. Die Suche werde während des Abends und am kommenden Tag fortgesetzt. [Update: Kurz nach Mitternacht folgten dann dann die korrigierten Angaben, das 27 Menschen gestorben seien.]

Über die Identität der Opfer wurde bislang kaum etwas bekannt. Allerdings berichtete die Zeitung Libération und später auch der Innenminister, dass sich unter den Toten fünf Frauen und ein kleines Mädchen befinden sollen. Auch liegen noch keine Informationen darüber vor, wo und unter welchen Umständen das Boot abgelegt hatte. Fest scheint für die Behörden hingegen zu stehen, dass die Überfahrt von kommerziellen Schleuser_innen organisiert worden ist – eine Annahme, die zwar unbewiesen ist, jedoch durchaus realistisch erscheint.

Zeitgleich zu den Rettungsoperationen nahm die Staatsanwaltschaft in Dunkerque Ermittlungen wegen schwerer fahrlässiger Tötung und Beihilfe zum illegalen Aufenthalt auf. Zwei, nach späteren Meldungen vier mutmaßliche Schleuser sollen festgenommen worden sein. Wenige Stunden später wurden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Dunkerque entzogen und der Juridiction interrégionale spécialisée in Lille übertragen.

Auf juristischer Ebene spiegelt sich darin die politische Aufwertung der Havarie zu einem Fall von nationaler Bedeutung, internationaler Tragweite und migrationspolitischer Signalwirkung. Calais wird damit einmal mehr zur migrationspolitischen Bühne.

Auf französischer Seite schrieb Premierminister Jean Castex von einer „Tragödie“ und erklärte: „Meine Gedanken sind bei den vielen Vermissten und Verletzten, die Opfer krimineller Schleuser sind, die ihre Not und ihr Elend ausnutzen.“ Präsident Emmanuel Macron erklärte später: „Frankreich wird nicht zulassen, dass der Ärmelkanal zu einem Friedhof wird.“ Ähnlich äußerten sich der britische Premierminister Boris Johnson und andere Politiker_innen beider Staaten.

Innenminister Gérald Darmanin flog nach Calais und besuchte dort am frühen Abend den Hafen und das Krankenhaus, wo er mit Bürgermeisterin Natacha Bouchart zusammentraf und die schon erwähnte Pressekonferenz gab. Die konservative Bürgermeisterin wiederum hatte kürzlich ein Treffen mit dem Minister boykottiert, um eine härtere Linie gegenüber den Exilierten in Calais einzufordern. La Voix du Nord zufolge nutzte sie die Gelegenheit nun, um ihre Kritik zu wiederholen und der Regierung Versagen vorzuwerfen. Darmanin wiederum machte Schleuser_innen für den Tod verantwortlich und kündigte eine „harte koordinierte internationale Antwort“ an. Er wies darauf hin, dass die Mehrzahl der benutzten Zodiaks aus Deutschland stamme, und erklärte, dass Frankreich in Kontakt zur Bundesrepublik stünde, um dies zu unterbinden.

Premierminister Castex kündigte für den Morgen des 25. November ein interministerielles Treffen der Ressorts Inneres, Justiz, Verteidigung, Meer, Verkehr und Auswärtige Angelegenheiten sowie des Europa-Staatssekretärs an. Präsident Macron forderte eine Dringlichkeitssitzung der für Migration zuständigen europäischen Minister_innen sowie die „sofortige Verstärkung der Mittel für die Agentur Frontex an den Außengrenzen“ der EU.

Währenddessen berief auch Johnson ein interministerielles Krisentreffen ein und erklärte an die Adresse Frankreichs gerichtet, dass die bisherigen Maßnahmen zur Verhinderung der Bootspassagen „nicht ausreichen“. Er bot an, „unsere Unterstützung zu verstärken, aber auch mit unseren Partnern an den betroffenen Stränden, an den Startplätzen für diese Boote, zusammenzuarbeiten.“ Präziser wurde er nicht, aber offenbar zielt seine Forderung auf den zusätzlichen Einsatz britischer Einsatzkräfte an der nordfranzösischen Küste. Frankreich hatte diese Forderung Großbritanniens bislang stets mit Hinweis auf seine territoriale Souveränität abgelehnt. Darüber hinaus sprachen Johnson und Macron im Laufe des Abends miteinander, ohne dass Genaueres über den Inhalt bekannt wurde.

So unscharf wie unser Wissen über die Havarie und ihre Opfer ist, sind vorläufig also auch die Konturen der politischen Reaktion. Alles deutet jedoch darauf hin, dass es auf eine weitere Radikalisierung der in den vergangenen Jahren etablierten Maßnahmen hinauslaufen wird. Calais und die Kanalroute scheinen zugleich aber von der regionalen und bilateralen Ebene, auf der das britisch-französische Grenzregime bislang hauptsächlich aushandelt wurde, auf die nationale und europäische Agenda gesetzt zu werden.

Mit der Havarie vor Calais steigt die Zahl der dokumentierten Todesfälle im Kontext dieses Grenzregimes auf 340 [nach den neuen Angaben: 336] Personen, und zwar ohne die aktuell und in den vergangenen Wochen auf See Vermissten (siehe hier). Die Havarie war nicht der erste Todesfall auf der Kanalroute, aber das erste tödliche Ereignis dieser Größenordnung. Neu ist auch der Kontext, in dem es stattfand: Die Route wurde in diesem Herbst zum ersten Mal nicht weniger, sondern trotz der riskanteren nautischen Bedingungen sehr viel stärker frequentiert (siehe hier und hier), was bedeutet, dass unter diesen Umständen mit weitere schwere Havarien gerechnet werden muss. Der Kanal ähnelt seit dem 24. November 2021 etwas mehr dem Mittelmeer. Eine noch restriktivere Fassung des Grenzregimes wird keinem Menschen das Leben retten, sondern den Markt für kommerzielle Schleusungen lukrativ halten und den Raum für die notwendige politische Neuaushandlung weiter blockieren. Erforderlich ist Reisefreiheit.