Kategorien
Calais Channel crossings & UK

Mehrere Todesfälle in wenigen Tagen

Ärmelkanal bei Calais, Ende Oktober 2021. (Foto: Th. Müller)

[Update, 5. November, abends] Sowohl auf See, als auch auf dem Festland haben sich innerhalb von nur zwei Tagen mehrere Todesfälle ereignet. Mindestens drei Exilierte verloren bei verschiedenen Havarien und Unfällen das Leben, eine weitere Person ist vermisst und eine andere lebensgefährlich verletzt. Seit August sind im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration mindestens sechs Menschen gestorben. Zählt man die vermutlich ertrunkenen Vermissten hinzu, deren exakte Zahl nicht bekannt ist, könnten es bis zu elf Todesopfer gegeben haben – fast alle innerhalb der vergangenen sechs Wochen. Währenddessen bargen französische Rettungsdienste so viele Exilierte aus Seenot wie selten zuvor, und noch nie erreichten so viele Channel migrants die englische Küste an einem einzigen Tag. Hier ein Überblick über die bislang bekannten Fakten.

Loon-Plage, 3. November

Der erste dieser neuerlichen Todesfälle ereignete sich während einer Bootspassage nach Großbritannien. Wie verschiedene Medien, darunter die Regionalzeitung La Voix du Nord, unter Berufung auf die zuständigen Staatsanwaltschaft von Dunkerque berichtet, führte die Société nationale de sauvetage en mer (Nationale Gesellschaft für Seenotrettung, SNSM) während des Nachmittags an der Küste von Loon-Plage westlich von Dunkerque eine Rettungsaktion durch. Dabei wurde ein ins Wasser gestürzter Mann leblos geborgen und konnte nicht wiederbelebt werden. Gegenüber der Nachrichtenagentur AFP erklärte die Staatsanwaltschaft später, dass es bei dem Toten um einen Mann in den Dreißigern handle und das Boot mit etwa vierzig Personen überladen gewesen sei. Die Identität des Opfers ist nicht bekannt.

Loon-Plage befindet sich westlich von Dunkerque und gehört zu dem 120 Kilometer langen Küstenabschnitt zwischen der belgischen Grenze und Boulogne-sur-mer, der am nächsten zu Großbritannien liegt und trotz zunehmender Überwachung nach wie vor besonders stark für die Passage der Kanaroute genutzt wird.

Boulogne-sur-mer, 3. November

Wie dieselbe Zeitung außerdem berichtet, wurde eine weitere Person nach Angaben der Seepräfektur nach einem Rettungseinsatz bei Boulogne-sur-mer als vermisst gemeldet. Es soll sich um einen eritreischen Staatsangehörigen handeln.

Bei der gegenwärtigen Wassertemperatur des Ärmelkanals von etwa 15 Grad Celsius ist ein Mensch nach etwa zwei Stunden völlig erschöpft oder bewusstlos, die maximale Zeitspanne, in der er überleben kann, liegt bei sechs Stunden. Vor diesem Hintergrund muss angenommen werden, dass der Vermisste ertrunken ist.

Wissant, 4. November

Am frühen Mogen des 4. November wurde am Strand von Wissant die Leiche eines jungen Mannes entdeckt. Wissant liegt westlich von Calais zwischen den beiden Kaps, an denen die französische Kanalküste von der Ost-West-Richtung, die sie bei Calais und Dunkerque einnimmt, nach Süden in Richtung Boulogne-sur-mer abknickt.

La Voix du Nord berichtet, dass es sich bei dem gefundenen Leichnam ebenfalls um einen Exilierten handelt. Er habe an Bord eines mit Wasser gefüllten Bootes gelegen. Auch über die Identität dieses Opfer liegen bislang keine Informationen vor. In der Nähe des Bootes hätten sich zwei weitere junge Männer befunden, die stark unterkühlt gewesen seien. Diese wurden in das Krankenhaus von Calais gebracht und sind nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-mer außer Gefahr.

Erste Untersuchungen der Gendarmerie ließen laut Staatsanwaltschaft vermuten, dass es sich bei dem gefundenen Mann nicht um den seit dem Vortrag bei Boulogne-sur-mer vermissten Eritreer handelt. Es wird angenommen, dass er sudanesischer Staatsangehöriger sei, so wie auch die beiden überlebenden Mitreisenden.

Calais, 4. November

Am frühen Abend desselben Tages starb ein Calais ein junger Eritreer, dessen genaue Identität ebenfalls noch nicht geklärt ist. La Voix du Nord zufolge war er gegen 18:30 Uhr gemeinsam mit anderen eritreischen Exilierten auf der Bahnstrecke Calais-Dunkerque unterwegs und wurde in der Nähe einer Haltestelle an der Rue Foissey von einem Regionalzug der Gesellschaft TER erfasst. Neben dem Toten wurden eine weitere Person lebensgefährlich und zwei weitere leicht verletzt. Nach dem Unfall wurden die Bahnstrecke und Straße gesperrt und der Lokführer psychologisch betreut.

Die später am Ort anwesenden zivilgesellschaftlichen Organisationen teilten der Zeitung mit, dass es sich um Minderjährige handelte, die gerade erst in Calais angekommen seien. Einem Bericht von InfoMigrants zufolge scheint jedoch lediglich klar, das sich Menschen aus Eritrea unter Verletzten befanden. Möglicherweise könne starker Regen und Wind dazu geführt haben, dass die Gruppe bzw. der Lokführer die Gefahr nicht rechtzeitig erkannten.

Bahngleise werden von Exilierten in Calais seit Jahren als diskrete Fußwege genutzt. Der Ort, an dem sich der Unfall ereignete, befindet sich zwischen mehreren stark frequentierten Punkten. Einen Häuserblock südlich der Haltestelle beginnt das weitläufige Gelände des Hospital Jungle, in dessen Umgebung sich eine Reihe weiterer informeller Lebensorte befinden. Nach Osten erreicht die eingleisige Strecke, ebenso wie die parallel verlaufende Rue du Beau-Marais, nach etwa einem Kilometer das als Old Lidl bekannte Gelände, wo am Vormittag desselben Tages eine Räumung erfolgreich verhindert worden war (siehe hier). Kurz danach lässt sich das Gewerbegebiet Transmarck mit seinen Infrastrukturen für den Lastkraftverkehr nach Großbritannien von der Rückseite her erreichen. Dort waren am 28. September und 21. Oktober zwei Exilierte von Lastwagen tödlich verletzt worden (siehe hier und hier).

Todesfälle, Rettungseinsätze und Rekordzahlen

Eine solche Häufung von Todesfällen hat es Laufe des Jahres noch nicht gegeben. Sie erinnert jedoch an das vergangene Jahr 2020, als sich in der Übergangsperiode zur kalten Jahreszeit ebenfalls mehrere tödliche Havarien auf See ereignet hatten. Blicken wir auf die aktuelle Entwicklung seit August, so handelt es sich neben den oben beschriebenen Fällen um die Folgenden:

  • 12. August: Tod eines 27 Jahre alten Eritreers im Ärmelkanal vor der Küste von Dunkerque, ein weiterer Exilierter wird vermisst (siehe hier, hier und hier),
  • 28. September: Tod des 16jährigen Yasser Abdallah im Gewerbegebiet Transmarck (siehe hier sowie zu den nachfolgenden Protesten hier und hier),
  • 21. Oktober: Tod des 30 Jahre alten Mohammed Al-Amin im Gewerbegebiet Transmarck (siehe hier),
  • 29. Oktober: Havarie eines Bootes vor der Küste von Harwich, bis zu drei Exilierte werden vermisst und dürften ertrunken sein (siehe hier).

Wie bereits im Vorjahr, hat die Häufung tödlicher Havarien offensichtlich mit den ungünstigeren nautischen Verhältnissen im Übergang zur kalten Jahreszeit zu tun. Nach einer Schlechtwetterphase Ende Oktober hatten die Bootspassagen Anfang November wieder zugenommen. Allein am 2. November überquerten nach Angaben des BBC-Jornalisten 456 Menschen den Ärmelkanal. Am 3. November waren es 853 Personen in 25 Booten, ein bisheriger Höchstwert für einen einzelnen Tag. Wie viele es am 4. November waren, ist noch nicht bekannt. Gleichzeitig teilten die französischen Behörden mit, dass vom 1. bis 3. November 779 Menschen auf See gerettet worden seien, allein etwa 400 am 3. November, was die Dienste an ihre Belastungsgrenze brachte (siehe InfoMigrants). Die Todes- und Vermisstenfälle auf See ereigneten sich also in einer Phase, in der die Passagen deutlich riskanter geworden sind, gleichzeitig aber die Nachfrage nach diesem Migrationspfad im Gegensatz zum saisonalen Trend des Vorjahres, als die Channel crossings im Oktober und November stark zurückgegangen waren, andauert. Seit Jahresbeginn registierten die britischen Behörden über 21.000 Querungen des Kanals in keinen Booten.

Auch die Todesfälle auf dem Festland spiegeln eine generellere Entwicklung: Transmarck rückt immer stärker in den Fokus derer, die eine Bootspassage nicht wagen wollen, nicht finanzieren können oder durch vorherige Erfahrungen traumatisiert sind. Insofern spiegelt sich auch in der Häufung von Todesfällen im Umfeld der dort konzentrierten Infrastrukturen des kanalübergreifenden Frachtverkehrs das Fehlen legaler und die Verknappung alternativer Migrationspfade.

Wie immer nach bekannt gewordenen Todesfällen, hielten zivilgesellschaftliche Gruppen am Abend des 5. November im Calaiser Richelieu-Park, neben dem Denkmal für die Gefallenen der Französischen Republik, eine Gedenkfeier ab.