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Dunkerque & Grande-Synthe

„Somewhere safe and stable“

Bericht einer irakischen Ortskraft der US-Armee aus dem Jungle von Dunkerque

Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque nach einer Räumung, Mai 2023. (Foto: Th. Müller)

Der folgende Erfahrungsbericht stammt von einem Mann aus dem kurdischen Teil des Irak, der als Ortskraft der amerikanischen Armee tätig gewesen war. Er beschreibt die Umstände, die ihn zur Flucht zwangen, seinen Weg nach Nordfrankreich und seine Erfahrungen im Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque. Genau dort wurde der Bericht im Frühjahr 2023 aufgezeichnet. Wir übernehmen ihn mit freundlicher Genehmigung des Aachener Zeitungskollektivs Tacheles, das ihn im Juli 2023 erstmals veröffentlichte.

Erfahrungsbericht einer Flucht aus dem Irak

„All humans are (l)egal“: Graffiti am Rand des Jungle von Loon-Plage, Mai 2023. (Foto: Th. Müller)

April 2023: Ich bin 33 Jahre alt und aus dem Irak. Zuletzt habe ich als Übersetzer für die amerikanische Armee gearbeitet, in einem Gefängnis für Terroristen. Ich war immer sehr vorsichtig und habe versucht unerkannt zu bleiben, aber eines Tages erkannten mich Leute wieder, Iraker*innen, aber ich weiß nicht, von welcher Gruppe oder Organisation. Sie wollten Informationen von mir, zum Beispiel über das Sicherheitssystem des Gefängnisses. Vielleicht hauen sie Leute drinnen die sie befreien wollten. Das war die Situation. Deshalb musste ich den Irak verlassen, weil ich nichts damit zu tun haben wollte.

Ich habe versucht, die Amerikaner zu kontaktieren. Ich hatte ihnen schon erzählt, was passiert war, aber sie sagten, das sei mein Problem und sie würden mir nicht helfen können, wenn ich Asyl beantragen will. Also bin ich mithilfe eines Schmugglers in den Iran. Aus dem Iran habe ich einen Bus nach Istanbul genommen Dort wurde ich festgenommen. Die Polizei wollte mich nicht gehen lassen, bis ich meinen Pass zeigte, doch den hatte ich nicht bei mir. Schließlich zeigte ich ihnen ein Foto, das ich auf meinem Handy hatte. Da sahen sie, dass ich in Sulaimaniyya im Irak geboren bin, was mich zu einem Kurden macht, und das mochten sie nicht wegen der Spannungen zwischen Kurdistan und der Türkei. Also haben sie mich richtig verprügelt und mir all meine Sachen – mein Geld, alles was ich bei mir hatte – abgenommen.

Ich musste meine Familie kontaktieren und sie bitten, mir Geld zu schicken. Damit konnte ich die Türkei verlassen. Ich wurde in einenLaster gesteckt. Dort war ich eine Woche lang. Der Laster fuhr über Griechenland oder direkt nach Italien, ich weiß es nicht genau. Ich habe den Hafen gehört, die Vögel, und ich habe im Laster auch die Wellen gespürt. Es war offensichtlich, dass wir auf einem großem Schilf waren. Wir waren einige Leute, auch Familien mit Kindern. Die Kinder weinten viel, wir hatten alle eine furchtbare Zeit.

Eines Nachts kamen wir raus. Sie brachten einen anderen Laster. Alle Schmuggler hatten ihr Gesicht vermummt. Eins der Kinder wehte und wollte nicht aufhören. Der Vater gab sich große Mühe, das Baby zu trösten, aber sie weinte und weinte. Also haben sie den Vater verprügelt. Es war wirklich hart, das mit anzusehen, das alles durchzumachen.

Schließlich wechselten wir den Laster und wurden in Paris wieder rausgelassen. Aus Paris fuhr ich mit dem Zug nach Calais. Ich wurde sofort festgenommen, als ich aus dem Bahnhof kam. Die Polizei brachte mich auf die Wache und hielt mich 24 Stunden fest. Dann ließen sie mich gehen.

Zwei Tage verbrachte ich auf den Straßen von Calais, weil ich nicht wusste, wohin. Die meisten Geflüchteten in Calais waren aus Syrien oder Eritrea. Ich hebe die anderen Geflüchteten gefragt, wo die Kurden sind, und sie haben mir gesagt, dass die meisten Kurden in Jungle von Dunkerque leben. Deshalb kam ich hierher.

Die Situation im Camp ist natürlich schrecklich. Wir müssen mit der Kälte und dem Regen klarkommen, im Zelt schlafen, alles ist dreckig. Aber die Organisationen, die hier arbeiten, sind großartig. Sie versorgen uns mit Essen, Zelten, Decken, Strom, medizinischer Hilfe… Das weiß ich sehr zu schätzen. Was aber wirklich schwierig ist, ist die Hygiene. Die Leute sind ziemlich gedankenlos und werfen alles einfach weg. Dass es keine Toiletten oder Duschen gibt, ist ein großes Problem – alle gehen einfach nach draußen.

Eine Räumung habe ich selbst noch nicht erlebt, aber vor einigen Wochen hat es eine gegeben.

Ich habe zweimal versucht, den Ärmelkanal zu überqueren. Einmal wurden wir von der Polizei erwischt, aber sie waren nicht aggressiv und haben uns gehen lassen. Beim zweiten Mal war das Boot kaputt. Es ist wirklich schwierig. Jedes Mal, wenn wir zu dem Ort gehen, um das Boot zu nehmen, sind auch viele Familien dabei. Wir Alleinstehende müssen ihnen helfen, ihre Kinder zu tragen.

So ist es bisher gewesen.

Ich hoffe, dass ich in England ein Leben haben kann, das ich in meinem Land nie haben konnte und von dem ich immer geträumt habe. Ein bisschen Stabilität, um wieder auf die Füße zu kommen. Ich schätze, die ersten Jahre würde ich studieren und Dinge über das Leben in England lernen. Und… das ist so ziemlich das, was ich tun möchte. Einfach irgendwo sein, wo es sicher und stabil ist.

Im Irak habe ich mit einer Partner-NGO des UNHCR gearbeitet. Wir haben viele Daten gesammelt über Flüchtlinge im ISIS-Krieg, die in Sulaimaniyya ankamen. Ich war dort Senior Data Manager. Wir haben alle Geflüchteten registriert und die Daten mit verschiedenen NGOs geteilt. Die haben unsere Daten genutzt, um Unterstützung anzubieten. Vielleicht kann ich in Zukunft, wenn ich in UK ankomme, wieder etwas in der Richtung machen und so etwas zurückgeben. Ich weiß ja, wie die Menschen sich fühlen – ich habe es ja selbst durchgemacht. Also wäre es schön, anderen helfen zu können.

[Erstveröffentlichung: Tacheles, Ausgabe 11 v. Juli 2023, S. 12]