Am Rand von Calais kam es am 10. Oktober zu einer der größten polizeilichen Räumungen eines Camps seit 2016. Betroffen war, wie bereits im Juni (siehe hier und hier), das Camp Old Lidl. Mit bis zu tausend Bewohner_innen meist sudanischer Herkunft war es der größte informelle Lebensort im Raum Calais. Einen Tag nach der Räumung begannen Bewohner_innen mit dem Wiederaufbau. Nach wie vor ist die Entwicklung des Camps eng mit einem Gewerbegebiet verflochten, über das ein Großteil des Frachtverkehrs nach Großbritannien läuft. Die Erschließung neuer Flächen für Firmenansiedlungen bildet den Hintergrund der aktuellen Räumung – und ist Teil einer expandierenden Hochsicherheitslandschaft im Vorfeld der britischen Grenze.
Eine der größten Räumungen
Wie die Lokalzeitung La voix du Nord und das Onlinemedium InfoMigrants berichten, lebten zum Zeitpunkt der Räumung etwa 700 Menschen in dem Camp, lokale Initiativen sprechen von rund 1.000 Bewohner_innen. Dies waren doppelt soviele wie bei der letzten großen Räumung am 1. Juni 2023. Old Lidl ist damit der mit Abstand größte informelle Lebensort von Exilierten in Calais und Umgebung. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der Transit-Migrant_innen in Calais wird von den Behörden auf 900 und von zivilgesellschaftlichen Akteuren auf 1.200 geschätzt.
Die Räumung begann am 10. Oktober gegen 5:30 Uhr. Aufseiten der Behörden waren etwa 350 Angehörige von Polizei (einschließlich CRS) und Gendarmerie im Einsatz. „Um das Gebiet herum wurde ein riesiger Sicherheitsbereich errichtet, um jeden Versuch, sich während der Operation dem Gelände zu nähern, einschließlich Journalisten, zu unterbinden,“ beobachtete die Zeitung La voix du Nord.
Es handelte sich um eine sogenannte mise à l’abri-Operation, aus Sicht der Behörden also um eine humanitäre Maßnahme zum Schutz und zur Unterbringung der Betroffenen. In Calais steht der Begriff für einen bestimmten Typ von Räumungen, bei dem die Bewohner_innen eines Camps mehr oder weniger freiwillig in CAES (Centre d’Accueil et d’Examen des Situations) genannte Aufnahmezentren gebracht werden. Diese befinden sich grundsätzlich in räumlicher Distanz zu Calais und stellen keine dauerhaften Unterkünfte, bieten jedoch die Möglichkeit, ins französische Asylsystem zu wechseln. In der Regel entscheiden sich die Betroffenen dafür, nach Calais zurückzukehren, um nach Großbritannien weiterzureisen.
Bei der aktuellen Räumung wurden nach Angaben der Präfektur des Departements Pas-de-Calais 537 Menschen in CAES gebracht. Außerdem seien 21 Personen wegen irregulärem Aufenthaltsstatus festgenommen [1] und unbegleitete Minderjährige an betreuende Institutionen weitergeleitet worden.
Während die Präfektur von einem reibungslosen Ablauf der Räumung sprach, machen Beobachtungen zivilgesellschaftlicher Organisationen deutlich, dass Einschüchterungen und Drohungen im Spiel waren. „Sie kamen in Schutzausrüstung, mit Schilden und Helmen und waren mit Schlagstöcken, Tränengasgranaten und LBD [Gummigeschosse] ausgerüstet“, erklärte ein Vertreter von von Utopia 56 gegenüber InfoMigrants.
Einer von Utopia 56 und anderen lokalen Organisationen unterzeichneten Erklärung von Human Rights Observers unterstreicht den gewaltsamen Charakter der Räumung und wertet sie als aktive Vertreibung. Die Geflüchteten seien vorab nicht über die Räumung informiert worden und der zugrunde liegende Gerichtsbeschluss sei weder ihnen, noch den zivilgesellschaftlichen Akteuren bekannt gewesen. Die Geflüchteten seien vielmehr aus dem Schlaf gerissen und in einer für sie völlig unklaren Situation vor die Wahl gestellt worden, entweder in die Busse zu den CAES zu steigen oder durch die Grenzpolizei festgenommen zu werden. Mehrere hundert Menschen hätten es vorgezogen zu flüchten, mussten wegen der Absperrungen aber gefährliche Wege wie etwa ein Bahngleis nutzen. Die CAES, in welche die Menschen gebracht wurden, waren teils über 150 Kilometer von Calais entfernt. Einzelne Exilierte hätten berichtet, sie seien einige Dutzend Kilometer von Calais entfernt am Straßenrand abgesetzt worden.
Eine große Anzahl von Zelten, Planen, Paletten und anderen Gebrauchsgütern wurde im Anschluss daran abtransportiert, darunter auch zwei 1.000 Liter-Wassertanks zur Grundversorgung des Camps mit Trink- und Waschwasser. Dasselbe gilt für persönliche Gegenstände, die in der Hektik der Räumung nicht mitgenommen werden konnten. Human Rights Observers gehen davon aus, dass die Menschen ihr Eigentum nicht zurückerhalten werden.
Mise à l’abri-Operationen laufen in Calais üblicherweise darauf hinaus, dass die Geräumten nach kurzer Zeit in eine noch prekärere Situation zurückkehren und das Camp wieder aufbauen. Auch in diesem Fall dürfte die Räumung nicht das Ende des Camps markieren. „Einige der Exilierten, die am Dienstagmorgen evakuiert wurden, waren bereits wenige Stunden später wieder in der Stadt. Andere, denen es gelungen war, der Räumung zu entgehen, irrten durch die Straßen von Calais“, berichtete InfoMigrants.
Einen Tag nach der Räumung beschrieb La voix du Nord die Neuentstehung des Old Lidl: „Rund fünfzig Zelte und verschiedene Unterstände wurden bereits hundert Meter vom vorherigen Camp entfernt wieder aufgebaut, direkt hinter dem kleinen Wäldchen. Matar und Isse bringen mit einer Schubkarre eine Matratze zurück. ‚Wir wurden gestern von dort vertrieben‘, sagen die beiden Sudanesen und zeigen den Ort, an dem das Lager am Dienstag abgebaut wurde. ‚Wir haben letzte Nacht nicht geschlafen‘, berichten sie. Ein Stück weiter tragen andere Migranten eine kleine Hütte auf Armeslänge, um sie dorthin zurückzubringen, wo die anderen sind. […] Alles unter den Augen der Polizeibeamten, die in der Gegend patrouillieren.“
Der expandierende Gewerbepark
Die Räumung erfolgte, so Präfekt Jacques Billant, auf Antrag der Firma Territoires 62, die als Grundstücksentwickler für das Gewerbegebiet Parc d’activités de la Turquerie tätig ist. La Turquerie ist der offizielle Name des Areals, auf dem sich das Camp Old Lidl befindet. Der gleichnamige, von Territorire 62 betreute Gewerbepark stellt eine Erweiterung des bereits bestehenden Gewerbegebiets Transmarck dar, ist wie dieses auf den Frachtverkehr zugeschnitten und verfügt zusätzlich über eine Bahnanbindung.
Die Geschichte des Camps ist untrennbar mit der Entstehung und Expansion dieser Gewerbeflächen verbunden: Es entstand ab 2017 aus einem verstecken Lebensort von Geflüchteten aus dem Sudan. Diese Gruppe verfügt selten über die Mittel, um eine Bootspassage nach Großbritannien zu finanzieren; daher versuchen die Menschen, sich auf einem Lastwagen mit dem Ziel Großbritannien zu verstecken. Die hierfür geeigneten Plätze und Anlagen waren rund um Calais jedoch massiv reduziert bzw. versperrt worden. An ihre Stelle trat das neue und stark gesicherte Gewerbegebiet Transmarck. Es ist heute wie kein anderes auf den Lastkraftverkehr zu den Kanalfähren spezialisiert. Neben Betrieben zur technischen Wartung der Fahrzeuge und bewachten Parkplätzen finden sich beispielsweise Anlagen zum Scannen der Frachträume nach versteckten Passagier_innen. An der kurzen Fahrstrecke von Transmarck zur Autobahn versuchen Geflüchtete, auf fahrende Lastzüge aufzuspringen – ein gefährliches und bereits mehrmals tödliches Manöver.
In den ersten Jahren war Transmarck fußläufig erreichbar, aber zwischen beiden Orten blieb eine räumliche Diszanz erhalten. Diese wird durch den neuen Gewerbepark La Turquerie nun gänzlich aufgehoben. Die sichtbarste Folge dieser Ausdehnung ist der Bau eines Logistikzentrums der Firma Delquignies Vandervorst dort, wo sich bis 2022 der Mittelpunkt des Old Lidl befand.
Das Camp passte sich dieser Raumentziehung an, indem es auf noch zugängliche Flächen auswich, deren Bebauung jedoch absehbar ist. Daneben bietet eine kleine Waldpartelle einen durch die Vegetation geschützten Rückzugsraum.
Eine von Territoire 62 erstellte Karte, mit den Hilfe sich interessierte Investor_innen über die verfügbaren Grundtücke informieren können, verdeutlicht die künftige Entwicklung rund um das Camp:
Auf der rechten (östlichen) Seite der Grafik ist das Gewerbegebiet Transmarck erkennbar. Die grün hervorgehobenen Flächen stellen den Gewerbepark La Turquerie dar, der allmählich von Ost nach West erschlossen wird. Das mit der Ziffer 19 markierte Grundstück entspricht dem früheren Zentrum des Old Lidl, wo inzwischen das Delquignies-Logistikzentrum steht. Auf den benachbarten, ebenfalls mit Ziffern markierten Grundstücken ertreckte sich das Camp bei seiner aktuellen Räumung.
Die Grafik verdeutlicht auch Vorstellungen, wie das Areal einmal aussehen soll. So ist die als Rückzugsraum dienende Waldparzelle verschwunden und durch eine freie Fläche mit einzeln stehenden Bäumen ersetzt. Entlang der südlich und westlich vorbeiführenden Autobahnen in Richtung Fährhafen verlaufen breite Wasserflächen, die zugleich Bewegungshindernisse darstellen. Es liegt auf der Hand, dass der Gewerbepark als Hochsicherheitslandschaft konzipiert ist, die sich in die seit der Jahrtausendwende entstandenen Anlagen zur vorgelagerten britischen Migrationsabwehr einfügen wird.
Bislang jedoch ist La Turquerie eine unfertige Großbaustelle. Trotz der fortschreitenden Entziehung von Raum bieten sich daher Flächen für neue Zeltsiedlungen an. Vorerst dürften der Logistikpark und das Camp also gleichzeitig existieren und räumlich ineinander übergehen. Eine finale Verschließung des Gebiets mag beabsichtigt sein, jedoch erst für die Zukunft.
Anmerkung:
[1] Im verlinkten Artikel von La voix du Nord finden sich abweichende, und zwar höhere, Zahlenangaben. Wir folgen hier den Angaben der Präfektur bzw. deren Zitation durch InfoMigrants.