Kategorien
Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Massive Räumungen zu Beginn der kalten Jahreszeit

Räumung des Jungle von Loon-Plage, 19. Oktober 2023. (Foto: No Border Medics)

Nach der Räumung des Camps Old Lidl in Calais (siehe hier) führten die Behörden zwei weitere Räumungen durch. Beide galten dem Jungle in Loon-Plage bei Dunkerque – für viele Exilierte die letzte Station vor der Bootspassage nach Großbritannien. Innerhalb von weniger als zwei Wochen waren damit fast alle Geflüchtete, die in Nordfrankreich auf ihr Weiterkommen nach Großbritannien warten, von einer Räumung betroffen.

Old Lidl, wo am Rand von Calais rund 1.000 Geflüchtete lebten, war am 10. Oktober 2023 mit großem Aufwand geräumt worden. Während 537 Menschen mit Bussen in Aufnahmezentren (CAES) gebracht wurden, flüchteten andere aus dem umstellten Gelände und wurden, wie Videoaufnahmen belegen, mit CS-Gas angegriffen. Einen Tag nach der Räumung ließ die Stadtverwaltung in der Innenstadt von Calais und in einem kleineren Camp zwei Trinkwasserbehälter konfiszieren, mit denen lokale Organisationen die Exilierten versorgten. Ein dritter Behälter auf dem inzwischen wieder bewohnten Gelände des Old Lidl wurde beschädigt.

Kurz darauf, am 12. Oktober, räumten rund 200 CRS-Polizist_innen den Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque. Das Camp ist seit mehreren Jahren von Räumungen betroffen, die meist im Abstand einiger Wochen stattfinden und manchmal die Verlegung an einen anderen Ort bewirken (siehe zuletzt hier und hier). Zum Zeitpunkt der Räumung lebten geschätzt 2.000 Menschen in dem Camp – eine vergleichsweise hohe Zahl. Das Gelände wurde in diesem Fall nicht versperrt oder unbrauchbar gemacht, jedoch zurückgelassene Zelte und Gegenstände abtransportiert und die im Jungle betriebenen Shops und Imbisse zerstört.

Räumung des Jungle von Loon-Plage, 19. Oktober 2023. (Video: No Border Medics)

Eine Woche später, am 19. Oktober 2023, wiederholte sich die Räumung. Erneut waren etwa 2.000 Menschen betroffen. In beiden Fällen wurde vier bzw. fünf Busse voller Menschen in Aufnahmezentren gebracht, aus denen viele erfahrungegemäß wieder zurückkehren. Andere blieben ohne die beschlagnahmten Zelte, Decken und Schlafsäcke auf dem geräumten Areal zurück. Nach Angaben von Utopia 56 waren es bei der Räumung am 19. Oktober mehr als tausend Personen.

Transport in Aufnahmezentren während der Räumung des Jungle von Loon-Plage, 19. Oktober 2023. (Video: No Border Medics)

Das Onlinemedium InfoMigrants berichtet unter Berufung auf die lokale Koordinatorin von Utopia 56, Amélie Moyart, dass die Aufnahmezentren bei dieser Räumung bereits überfüllt gewesen seien. Überhaupt habe sich die Situation im Jungle verschlechtert: „Es gibt jeden Tag Neuankömmlinge. […] Und mit der Kälte, die seit dieser Woche kommt, wird es noch komplizierter. Wir sind in den letzten Tagen auf 5 bis 6 Grad gesunken.“ Ein Grund für die angestiegene Personenzahl sei die schlechte Witterung, die das Ablegen der Boote verhindere. Außerdem sei sie „das Ergebnis von allem, was in der Welt passiert und die Menschen zur Migration zwingt. Es gibt viele Menschen, die zum Beispiel in Briançon ankommen, und dann kommen sie hier an.“

Räumung des Jungle von Loon-Plage, 19. Oktober 2023. (Video: No Border Medics)

Innerhalb von weniger als zwei Wochen fanden an beiden Orten – Calais und Dunkerque – also drei sehr große Räumungen statt. In der Summe dürften an die 3.000 Menschen betroffen gewesen sein. Dies sind praktisch alle informell in Nordfrankreich lebenden Migrant_innen, sofern sie sich in einem der beiden Groß-Camps aufhalten. Mit Blick auf die kalte Jahreszeit kommt hinzu: Eine in Frankreich geltende Norm, die Räumungen in den Wintermonaten eigentlich ausschließt, wurde bereits in den vergangenen Jahren nicht beachtet (siehe hier). Im Winter 2023/24 dürfte sich dies wiederholen.

Die Behörden argumentierten einmal mehr, dass sie lediglich humanitäre Ziele verfolgten. In einem Post rechtfertigt die Präfektur der Region Hauts-de-France und Nord die Räumungen in Loon-Plage: „Bei diesen beiden Räumungsaktionen wurden fast 450 Personen in Sicherheit gebracht und vor den erbärmlichen Lebensbedingungen in einem ungesunden und gefährlichen Camp bewahrt. […] Die Polizisten und Gendarmen haben zwei klare Ziele: menschliches Leben zu schützen und Schleuser zu stoppen.“ Schön zu lesende Statements wie dieses finden sich standardmäßig nach Maßnahmen gegen die prekären Lebensorte der Exilierten, aber auch im Zusammenhang mit den Bootspassagen, bei Strafverfahren gegen Schleuser_innen und nicht zuletzt nach Todesfällen. Sie passen gut in ein Framing, das nicht nur in Frankreich den politischen Diskurs verschiebt.