Im Rahmen eines britisch-französischen Gipfels im März 2023 kündigte Premierminister Rishi Sunak an, dass seine Regierung den Bau einer neuen Abschiebehaftanstalt im nordfranzösischen Grenzraum finanzieren werde (siehe hier). Ein halbes Jahr später legte der französische Innenminister nun Pläne zur Errichtung neuer Centres de Rétention Administrative (CRA) bis zum Jahr 2027 vor. Diese sogenannten Verwaltungshaftzentren dienen vor allem dem Vollzug der Abschiebungshaft. Eines von ihnen soll bei Dunkerque entstehen. Zwar sind die Pläne noch vage, doch erste Projektdienstleistungen sind bereits öffentlich ausgeschrieben.
Im nordfranzösischen Küstengebiet bestehen bislang zwei CRA, und zwar in Coquelles bei Calais und in Lille. Vor allem das Coquelles Centre de Rétention Administrative ist eng mit der Geschichte der irregulären Migration nach Großbritannien verknüpft. Es wurde im Januar 2003 in der Nähe des Kanaltunnels in Betrieb genommen, an einem Ort also, auf den sich damals – stärker als heute – die Versuche richteten, informell nach Großbritannien zu gelangen. Die Kapazität des CRA Coquelles wird mit 104 Plätzen, und zwar ausschließlich für erwachsene Männer, angegeben.
Routinemäßig inhaftiert die Grenzpolizei PAF (Police aux frontiéres) dort Personen, die bei Identitätskontrollen keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzen. Da die PAF an Räumungen teilnimmt, die in Calais weiterhin alle 48 Stunden stattfinden, sind solche Festnahmen ein fester Bestandteil des Migrationsmanagements im Küstengebiet. Der Journalist Louis Witter verweist außerdem auf die Einschreibung von Maßahmen, die ursprünglich im Rahmen des Ausnahmezustandes zur Terrorismusabwehr ergriffen worden waren, in das allgemeine Recht und damit auch in die Arbeit der PAF. „In einem Radius von zehn Kilometern um den Hafen können die Polizisten auf Anordnung des commissaire divisionnaire zwölf Stunden lang zahlreiche Identitätskontrollen durchführen. Wenn man diese Kontrollen ein wenig kartiert, sieht man, dass sie in ganz Calais stattfinden, in der Nähe der Camps, am Bahnhof oder im Stadtzentrum, was den Menschen keine Ruhe lässt“, zitiert Witter eine lokale Helferin.
Hinzu kommt der Einsatz der PAF bei der Verhinderung von Bootspassagen. Nach Angaben lokaler Aktivist_innen waren „im Jahr 2022 im CRA von Coquelles […] 142 Menschen eingesperrt, nachdem sie auf dem Meer gerettet worden waren, und 467 Menschen, nachdem sie an der Grenze festgenommen worden waren.“
Die Gesamtkapazität aller CRA in Frankreich beträgt laut Innenministeriums momentan 1.869 Plätze. Am 8. Oktober 2023 veröffentlichte das Innenministerium eine Presseerklärung zum laufenden Ausbau dieser Haftstätten. Ziel ist es, die landesweite Kapazität der Haftplätze von 1.400 im Jahr 2017 auf 3.000 im Jahr 2027 zu erhöhen.
Das Ministerium beschreibt einen mehrstufigen Ausbau des Haftsystems, in dessen Verlauf bereits mehrere CRA neu errichtet und andere erweitert worden seien, darunter im Jahr 2020 auch die CRA in Coquelles und Lille. Zu den künftigen Phasen heißt es: „Neue CRA sollen in den Städten Dijon, Béziers, Aix/Luynes, Dunkerque, Goussainville, Nantes und Oissel errichtet werden. Auch der Bau eines zusätzlichen CRA in Mayotte [französisches Überseegebiet] ist geplant. Die Aufnahmekapazität jedes dieser Zentren wird 140 Plätze betragen.“
Von diesen künftigen Standorten befindet sich zwei in der Ärmelkanalregion: Ouissel und Dunkerque. Während sich Oissel (bei Rouen) im Hinterland eines nur wenig für die Migration nach Großbritannien genutzten Küstenabschnitts befindet, liegt Dunkerque im Zentrum des Geschehens.
Wo genau das CRA entstehen soll, ist noch nicht bekannt. Die Presseerklärung des Innenministeriums spricht an unterschiedlichen Stellen einmal von Dunkerque selbst, ein andermal von „le Dunkerquois“, also der Gegend von Dunkerque. Auch lokale Medien wissen nichts Genaues. Wie La voix du Nord am 19. Oktober berichtete, reagierte der Unterpräfekt von Dunkerque überrascht auf Nachfragen der Presse. Die Präfektur des Departements Pas-de-Calais erklärte lediglich, der Standort sei noch nicht festgelegt. Allerdings geht die Zeitung davon aus, „dass die Anwesenheit zahlreicher Migranten in der Umgebung von Dünkirchen bei der Entscheidung eine Rolle gespielt hat.“ Das Blatt verweist insbesondere auf den Jungle von Loon-Plage.
Mit der Entscheidung für einen Standort in oder bei Dunkerque kommt Frankreich der britischen Regierung entgegen – und lässt sich den ohnehin erfolgenden Ausbau seiner Infrastruktur für die Abschiebungshaft mitfinanzieren. Während des britisch-französischen Gipfels am 10. März 2023 kündigte der britische Premierminister Sunak öffentlichkeitswirksam „eine neue Haftanstalt in Nordfrankreich“ an. Auch in der gemeinsamen Abschlusserklärung des Gipfeltreffens wird sie erwähnt: Sie werde „erheblich dazu beitragen, die Zahl der Rückführungen zu erhöhen und neue Überfahrtsversuche zu verhindern“. Offenbar soll der Bau aus einem Budget von insgesamt 541 Millionen Euro finanziert werden, das Sunak am selben Tag für die Migrationsbekämpfung im nordfranzösischen Küstengebiet zwischen 2023/24 und 2025/26 zusagte.
Einen Eindruck vom Stand der Vorbereitungen vermittelt eine Ausschreibung des französischen Innenministeriums vom 8. Oktober 2023. Ausgeschrieben ist der „Auftrag zur Unterstützung des Bauherrn im Hinblick auf den Bau eines CRA (140 Plätze) im Bezirk Dunkerque (SANDHURST)“. Der Zusatz „SANDHURST“ dürfte sich auf die Finanzierung durch Großbritannien beziehen, deren Grundlage der Vertrag von Sandhurst ist. Der Auftrag umfasst projektvorbereitende und -begleitende Dienstleistungen, nicht die Planung und Errichtung der Anlage selbst. Fristablauf für das Einreichen der Gebote ist der 7. November 2023. Für die Erbringung der Leistungen werden 36 Monate veranschlagt. Der Auftrag kann also nicht vor 2025 abgeschlossen werden.
Bereits am 17. September 2023 demonstrierten in Calais etwa 250 Menschen gegen den Neubau des Abschiebegefängnisses, über dessen Standort damals nur spekuliert werden konnte. Regionale Aktivist_innen kündigen an, weiter gegen den Neubau des CRA mobilisieren zu wollen.