Die wichtigsten Camps im nordfranzösischen Küstengebiet wurden am 30. November 2023 zeitgleich geräumt und über 1200 Menschen auf Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt. Es war eine der größten Räumungen seit 2016 – und die erste simultan in Dunkerque und Calais durchgeführte. Wenige Tage vor der Räumung hatten wir Gelegenheit, uns einen Eindruck von der Situation in den betroffenen Camps zu verschaffen – es war eine Reise in ein Krisengebiet.
Seit einem Sturm Anfang November war das nordfranzösische Küstengebiet von ungewöhnlich starken und anhaltenden Regenfällen betroffen, die zu Überschwemmungen führten (siehe hier). Auch Teile der Camps standen unter Wasser oder verwandelten sich in tiefen Morast. Auch die Bedingungen für die Passage des Ärmelkanals per Schlauchboot waren extrem ungünstig, sodass mehr Menschen als sonst um dieselbe Jahreszeit auf das nächste kurze Wetterfenster für die Passage des Ärmelkanals warteten. Das Extremwetter verschärfte die Lage der Exilierten also doppelt.
Jungle von Loon-Plage (Dunkerque)
Wer die nordfranzösische Küstenautobahn befährt, passiert westlich von Dunkerque ein mehr als 600 Meter langes Areal mit den üblichen Spuren einer vergangenen Räumung: entfernte Vegetation, durch Pflügen unnutzbar gemachter Boden, vereinzelt liegengebliebe Zeltreste und andere Besiedlungsspuren. An dieser Stelle unterquert eine schmale Landstraße die Autobahn. Sie führt in ein unübersichtliches Gebiet, in dem Ackerflächen, Brachland und Gewerbeflächen einander abwechseln.
Beiderseits der Straße waren weitere entwaldete und gepflügte Areale sichtbar, immer wieder führten Trampelpfade durch schützende Gebüsche zu Zeltgruppen. Eine shop area zweigte zu beiden Seiten von der Straße ab, unter weißen Zeltdächern wurden Mahlzeiten, Gebrauchsgüter und Dienstleistungen angeboten. Die von der Anwesenheit und dem Elend der Exilierten geformte Landschaft, der Jungle von Loon-Plage, schien um ein Vielfaches größer, als wir sie von früheren Recherchen in Erinnerung hatten.
Der Jungle war keine geschlossene Zeltsiedlung, sondern bestand aus einer Vielzahl verstreuter Camps, während die shop area mit ihrer infomellen Ökonomie und die distribution area einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen zwei räumlich voneinander getrennte Zentren bildeten. Der Jungle wird von Schleuserorganisationen dominiert und war wiederholt Schauplatz von Auseinandersetzungen und Machtdemonstrationen, die mit Schusswaffen ausgetragen wurden.
Die distribution area fanden wir am Ende einer Zufahrtstraße zu einigen ebenfalls im Brachland verstreuten Gewerbebetrieben. Neben einem zur Hälfte geöffneten Metalltor, das auf den Verteilungsplatz für Hilfsgüter führte, befand sich einer von mehreren Trinkwasserbehältern. Diese sind der einzige Zugang zu sauberem Wasser.
Auf der durchnässten distribution area boten private Organisationen Zugang zu medizinischer Hilfe, warmen Mahlzeiten und je nach Bedarf weiterer Unterstützung; Zugang zu Duschen bestand zuletzt nur phasenweise. Das Personal der nahegelegenen Gewerbebetriebe tendiert zu feindseligem Verhalten. So berichtet die Mitarbeiterin einer NGO von verweigerter Hilfe bei einem medizinischen Notfall, und zwar einem abgetrennten Finger. Die häufigsten medizinischen Leiden sind, wie zu erwarten, Atemwegserkrankungen und Hautkrankheiten.
On the ground tätige Initiativen schätzten die Zahl der Bewohner_innen des Jungle auf 1500 bis 2000 Menschen, unter ihnen 20 bis 30 Familien. Nach wie vor stammten sie aus Kriegs- und Krisenländern und/oder autoritären Regimen wie Kurdistan, Irak, Iran, Afghanistan, Sudan und Eritrea.
Der Jungle von Loon-Plage ist dasjenige Camp, in dem die meisten Bootspassagier_innen die Tage vor ihrer Überfahrt verbringen, auch wenn sie inzwischen meist von Boulogne-sur-mer aus in See stechen. Normalerweise ist der Aufenthalt im Jungle nur kurz, doch aufgrund der katastrophalen Witterung lebten viele schon wochenlang dort. An den wenigen Tagen im November, an denen überhaupt Überfahrten stattfanden, ging die Zahl der Bewohner_innen sichtbar zurück. Viele Exilierte berichten, dass sie bereits mehrfach versucht hätten, mit dem Boot überzusetzen, aber gescheitert seien. Manche wollten es noch einmal versuchen und dann zurück etwa nach Deutschland oder zum Überwintern nach Paris. Ein junger Mann berichtete einer Helferin glaubhaft von einer Havarie am 25. November, bei der drei seiner Freunde ertrunken seien. Wenn seine Schilderung zutifft, wurde der Tod dieser drei Menschen weder von den Behörden, noch von den NGOs dokumentiert.
Dass eine neue Räumung des Jungle bevorstand, wurde bei unserem Besuch erwartet.
Calais
In Calais war das Camp Old Lidl zum größten informellen Lebensort der Region geworden. Nach größeren Räumungen hatte es sich stets neu gebildet – nach der letzten großen Räumung am 10. Oktober 2023 (siehe hier) jedoch nicht in derselben Größe. Vielmehr entstand einige hundert Meter entfernt, an der Rue de Judée, ein weiteres Camp. Beide Camps befanden sich größtenteils in Waldparzellen, die inselartig in einem sonst offenen Gelände liegen.
Beide Camps sind Teil eines Geländes, das momentan für den Bau eines Gewergebiets erschlossen wird. Die riesige Fläche ist daher weitgehend vegetationsfrei und während einige Grundstücke noch brach liegen, sind andere bereits im Bau; weiter westlich ist mit Transmarck ein solches Gewerbegebiet bereits in Betrieb. Das gesamte Konzept zielt auf Betriebe, die sich auf Logistik für den Frachtverkehr nach Großbritannien spezialisiert haben. Dies war auch der Grund für die Ansiedlung der Exilierten, die – anders als im Raum Dunkerque – nicht die Mittel oder die Bereitschaft für eine Bootspassage haben und versuchen, sich auf Lastwagen nach Großbritannien zu verstecken. Weitere Camps gab es in anderen Randbereichen der Stadt und an den innerstädtischen Quais. Lokale Initiativen schätzten, dass Ende November rund 1500 Exilierte in Calais lebten.
Am 27. November hoben Arbeiter_innen an der Rue de Judée einen Graben aus und schüttete einen Erdwall auf. Die Maßnahme ist das jüngste Beispiel für die Taktik der lokalen Verwaltung, die Anfahrt zu distribution areas der lokalen Hilfsorganisationen zu blockieren. Sie erschweren und verlängern damit den Weg der Exilierten zu elementaren Gütern.
Drei Tage später räumten die Behörden zeitgleich zum Jungle von Loon Plage drei, nach anderen Angaben vier der Calaiser Camps.
Simultane Räumung
Dass Räumungen zeitgleich im Raum Dunkerque und Calais stattfinden, ist neu. Zwar zählte die lokale Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers seit Jahresbeginn drei vergleichbare Operation im Raum Calais und die zwölf im Raum Dunkerque. Allerdings fanden diese stets zeitversetzt statt und folgten unterschiedlichen zeitlichen Taktungen.
Die simultanen Räumungen begannen frühmorgens gegen 5 Uhr. Eine Räumung zu einer so frühen Uhrzeit verstößt nach Einschätzung von Human Rights Observers „gegen die gesetzlichen Bestimmungen“ und deutet auf eine Absicht hin, „die Menschen zu überrumpeln, wenn sie noch schlafen“.
Die Zeitung La voix du Nord berichtet unter Berurung auf die Präfektur, dass insgesamt 1244 Menschen umgsiedelt worden seien, davon 982 aus Dunkerque und 262 aus Calais. Man habe sie in Aufnahmezentren in über 30 Departements gebracht. Diese frankreichweite Verteilung deutet auf eine aufwändige Planung hin, die auch darauf abzielt, räumliche Distanz zum Grenzraum herzustellen. Einige Zielorte der Busse befanden sich „in der Bretagne, in Paris und sogar in Grenoble oder Perpignan“, so Human Rights Observers.
Die Präfektur der Region Hauts-de-France und Nord legte Wert auf die Feststellung, dass die Räumungen „angesichts der kalten Temperaturen und der unwürdigen und gefährlichen Lebensbedingungen in den Camps“ geschahen und die Menschen freiwillig in die Busse gestiegen seien. Human Rights Observers widerspricht vehement: „Viele unserer Foto- und Videobeweise belegen den Zwangscharakter dieser ‚Schutzmaßnahmen‘. Umzingelungen, Verfolgungsjagden, Einsatz von Tränengas… Wenn sie [die Exilierten, d. Verf.] nicht bereit waren, in Busse einzusteigen, deren Zielorte bis zu ihrer Ankunft unbekannt blieben […], wurden sie von der Grenzpolizei festgenommen.“ Auch andere lokale Akteure wiesen auf den Zwangscharakter der Räumungen hin. „Als wir die Polizei sahen, sind wir geflohen“, zitiert La voix du Nord einen 18-jährigen Geflüchteten aus dem Sudan aus einem der Calaiser Camps.
Bisherige Erfahrungen zeigen, dass viele Betroffene nicht lange in den Aufnahmezentren bleiben, da ihr Ziel weiterhin Großbritannien ist. „Die Menschen, die in den nächsten Tagen nach Dunkerque und Calais zurückkehren […], werden es schwer haben, einen Ort zu finden, an dem sie unterkommen können, und sei es auch nur auf äußerst prekäre Weise“, stellt Human Rights Observers fest. Im Zuge der Räumungen wurden die Lebensorte der Exilierten einmal mehr physisch zerstört, indem Säuberungstrupps „insbesondere alle Zelte ohne Ausnahme vernichteten“.
Human Rights Obervers weist außerdem auf eine fehlerhafte Rechtsgrundlage der Räumungen hin. So habe es sich bei einem der geräumten Areale um ein öffentliches Grundstück gehandelt, für das ein anderes Verfahren hätte durchgeführt werden müssen. Dennoch seien alle Camps auf die gleiche Weise behandelt worden, was eine Rechtsbeugung darstelle. „Und es gab keine Anhörung, bei der sich die Bewohner_innen der Lebensorte vor der Räumung vor einem Richter verteidigen konnten, was gegen das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte verstößt.“
Die Räumungen dürften die katastrophale Lage der Exilierten in Nordfrankreich kaum verändern. Sie folgen, vermutet Human Rights Observers, einer kurzfristigen Sichtweise, die auf Symbolpolitik abzielt: „Die Grenze für einige Tage zu leeren“ erlaube die Entfaltung eines Diskurses, „der pseudohumanitäre und sicherheitspolitische Aspekte vermischt, wohingegen eine echte Unterbringung, die die Bedürfnisse jedes Einzelnen respektiert, dringend erforderlich“ sei. Auch die katholische Hilfsorganisation Secours catholique kritisierte, dass eine in Calais seit Jahren vorgehaltene Nachtunterkunft für Frostperioden mit einer Kapazität von 450 Plätze während der gesamten Regen- und Überschwemmungsphase im November geschlossen blieb. Auch nach den Räumungen, bei der Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschten, wurde sie nicht geöffnet.
Sollten die Simultanräumungen darüber hinaus bezweckt haben, Bootspassagen zu unterbinden oder das Geschäftsmodell von Schleusern zu durchkreuzen, so verfehlten sie dieses Ziel. Am 30. November, dem Tag der Räumungen, gelangten 93 Menschen in zwei Schlauchbooten nach Großbitannien. Am Folgetag, dem 1. Dezember, waren es 519 Passagier_innen in elf Booten. Es war einer der am stärksten frequentierten Tage dieses Jahres.