Seit 2017 dokumentiert Human Rights Observers (HRO) polizeiliche Räumungen informeller Lebensorte im nordfranzösischen Küstengebiet. In den monatlichen Berichten der Organisation spiegelt sich die unfassbar hohe Zahl der Räumungen in Calais ebenso wie die Massivität der Räumungen bei Dunkerque. Für das Jahr 2023 liegen bislang nur unvollständige Zahlen vor. Dennoch möchten wir versuchen, das Ausmaß und die Intensität der Räumungen zu umreissen.
Aufgrund interner Umbrüche legte HRO nicht für alle Monate des Jahres 2023 Berichte über die beobachteten Räumungen, Festnahmen und Beschlagnahmungen vor. So fehlen für Calais die Angaben zu den Monaten Februar, März und April und für Dunkerque (mit den Kommunen Grande Synthe und Loon-Plage) zusätzlich die Daten für September. HRO wies nach der Wiederaufnahme der Arbeit im April darauf hin, dass „aufgrund der extrem begrenzten Kapazität des Feldteams einige Räumungen nicht dokumentiert werden konnten. Diese Zahlen sollten daher als extremes Minimum betrachtet werden.“
In Calais und Umgebung dokumentierte HRO im vergangenen Jahr dennoch 592 Räumungen. Die Räumungen fanden, wie in den Vorjahren, in einem Zwei-Tages-Turnus statt und betrafen pro Monat zwischen sechs und dreizehn informelle Lebensorte von Menschen on the move. Nur einzelne, mit großem Aufwand vorbereitete, Räumungen zielten auf die tatsächliche Auflösung eines Siedlungsplatzes und waren mit einem Bustransfer der Betroffenen in Aufnahmezentren verbunden (siehe hier, hier, hier und hier). Alle übrigen Operationen zwangen die Bewohhner_innen lediglich, ihre Zelte und persönlichen Sachen vorübergehend in Sicherheit zu bringen, um nach dem Abzug des stadtbekannten Konvois aus Polizei und Gendarmerie wieder zurückzukehren. Wem dies nicht gelang, musste damit rechnen, Zelt und Eigentum nicht mehr wiederzufinden. Für die Betoffenen erzeugt diese Vorgehensweise ständigen Stress und gestaltet ihre Lebensumstände inhuman und gesundheitsschädlich.
In den Vorjahren hatte die Zahl der dokumentierten Räumungen zunächst bei knapp tausend gelegen, nämlich 952 in 2018, 961 in 2019 und 967 in 2020; danach war sie auf 1.126 (2021) und 1.669 (2022) angestiegen. Angesichts der unveränderten Routine, alle 48 Stunden mehrere Lebensorte nacheinander zu räumen, erscheint die dokumentierte Mindestzahl von knapp 600 Räumungen für das Jahr 2023 viel zu gering.
Neben der Anzahl der Räumungen dokumentiert HRO seit Jahren auch das Ausmaß von Festnahmungen und Beschlagnahmungen. Demnach wurden bei Räumungen in Calais im Jahr 2023 mindestens 85 Exilierte festgenommen. Beschlagnahmt wurden mindestens 1.086 Zelte bzw. Schutzplanen, 28 Schlafsäcke und 32 Fahrräder. In 76 Fällen befanden sich noch persönliche Sachen in einem beschlagnahmten Zelt. In den Vorjahren hatte HRO die Beschlagnahme von etwa 5.800 (2021) bzw. 3.100 (2022) Zelten/Schutzplanen, etwa 2.800 (2021) bzw. 650 (2022) Schlafsäcken/Decken und 99 (2021) bzw. 4 (2022) Fahrrädern dokumentiert; 226 mal hatten sich im Jahr 2022 noch persönliche Dinge in beschlagnahmten Zelten befunden (siehe hier und hier). Auch in dieser Hinsicht erscheinen die Daten für das Jahr wenig aussagekräftig: Wurde den Exilierten tatsächlich weniger Subsistenzgüter und persönliches Eigentum weggenommen, und wenn ja in welchem Maße, oder erzeugen die unvollsändigen Daten lediglich ein Zerrbild?
Im Raum Dunkerque war die Situation von Anfang an anders als in Calais. Momentan konzentrieren sich die Camps an einem Ort, der als Jungle von Loon-Plage bekannt ist. Hier finden Räumungen in größeren Abständen statt, sind jedoch sehr viel massiver als in Calais. HRO registrierte 29 Räumungen, was sich auf ungefähr 40 Räumungen für das Gesamtjahr 2023 hochrechnen lässt. Dabei wurden 79 Festnahmen beobachtet.
Beschlagnahmungen lassen sich im Raum Dunkerque nur schwer quantifizieren, da meist die gesamte Einrichtung des geräumten Geländes mit schwerem Gerät zerstört und entfernt wird. So füllte das Material im Mai 2023 drei und im August zwei Container mit einem Volumen von jeweils 30 m³. Bis zu fünf schwere Maschinen waren im Einsatz, um zurückgelassenes Material aus geräumten Camps zu entfernen, schützende Vegetation zu roden bzw. den Boden umzupflügen, um ihn als Siedlungsplatz unbrauchbar zu machen. Bei einer Räumung im November waren 23 Busse im Einsatz, um Bewohner_innen in Aufnahmezentren zu transportieren, oft gegen deren Willen. Eine Räumung im Dezember richtete sich gezielt gegen die shop areas des Jungle mit ihren Treffpunkten, Geschäften und sozialen Räumen, die laut HRO völlig zerstört wurden, während in diesem Fall kein Bustransfer in Aufnahmeeinrichtungen bestand.
Die Zahlen für das Jahr 2023 geben für Dunkerque wohl ein realistischeres Bild als für Calais, wo die enge zeitliche Taktung der Räumung einen dokumentarischen Aufwand erfordert, den HRO nicht kontinuierlich leisten konnte. Wieviele Räumungen 2023 stattfanden, muss daher offen bleiben.
Doch bedeutet dies nicht, dass die vorliegenden Daten wertlos sind. So registrierten die Teams von HRO erneut eine Vielzahl von Situationen, in denen sich Einsatzkräfte bei Räumungen übergriffig, einschüchternd oder beleidigend verhielten. Einen plastischen Eindruck hiervon vermittelt der HRO-Bericht über die Calaiser Räumungen im Dezember 2023:
„Am 7. Dezember beschlagnahmte die Polizei zwei Kätzchen aus einem Camp, obwohl es sich um die Haustiere von Menschen on the move handelte. Am 16. und 22. Dezember bedrängten die Ordnungskräfte Menschen on the move mehrere Dutzend Minuten lang und zwangen sie, ihre eigenen Behausungen zu zerstören. Am 16. Dezember wehte der Wind das Zelt eines vor der Räumung fliehenden Exilierten weg; es fiel in einen Teich und löste Heiterkeit bei den umstehenden Ordnungskräfte aus. Am 22. Dezember weckten die Ordnungskräfte die Menschen on the move mit Fußtritten auf. Am selben Tag sprach ein CRS-Angehöriger mit einem Exilierten auf Französisch, und als HRO ihn an die Anwesenheit von Übersetzern vor Ort erinnerte, antwortete er: ‚Nein, das Problem ist, dass er nicht verstehen will‘, und stieß ihn dann von dem Hügel, auf dem er stand. Am selben Tag riss ein CRS-Mitarbeiter einem Exilierten das Zelt weg, das dieser trug, und warf es zu Boden. Die Person nahm daran Anstoß, und der CRS, der ein Abschussgerät für Gummigeschosse trug, schrie ihn an: „Komm, lass uns ein bisschen Spaß haben!“ Als der junge Mann floh, wandte er sich an seine Kollegen und fragte: ‚Gibt es in unserem Team schnelle Läufer?‘“
Nicht zuletzt dokumentiert HRO, dass weiterhin geräumt und beschlagnahmt wird, obwohl der in Frankreich geltende ‚Winterfriede‘ ausschließen soll, dass Menschen während der kalten Jahreszeit durch Räumungen obdachlos werden. Bereits in den Vorjahren war diese humanitäre Reglung missachtet worden. In Calais und Umgebung wurden im November 94 Räumungen an 16 verschiedenen Plätzen und im Dezember 86 Räumungen an 11 Plätzen dokumentiert. Im Januar 2024 folgten weitere 101 Räumungen. Im Raum Dunkerque waren es im November und Dezember je zwei Räumungen. Im gleichen Zeitraum bestand in Nordfrankreich fast durchgängig eine Extremwettersituation mit anhaltendem Regen, der vom Boden nicht mehr aufgenommen werden konnte und zu Überflutungen führte, sowie mehreren Stürmen (siehe hier und hier). Da Boote kaum übersetzen konnten, erhöhte sich die Zahl der Menschen vor allem im Jungle von Loon-Plage stark.
HRO hält an der Einsätzung fest, dass der überwiegende Teil der Räumungen ohne rechtliche Grundlage geschieht und somit illegal ist.