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Razzien im Hinterland

Europol, die Operational Task Force Wave und die Polizeiaktion gegen Schleuser in Nordrhein-Westfalen

Razzia am 21. Februar 2024. (Foto: Europol)

Unter Federführung von Europol fand am 21. Februar 2024 eine grenzübergreifend koordinierte Polizeiaktion statt. Sie richtete sich gegen eine irakisch-kurdische Schleuserorganisation, die für einen Teil der Bootspassagen nach Großbritannien verantwortlich gemacht wird. An der Aktion dürften mehr als 700 Beamt_innen im Einsatz gewesen sein, die meisten von ihnen Bedienstete der deutschen Bundespolizei. Insgesamt wurden 19 Verdächtige festgenommen, 28 Objekte durchsucht sowie Boote und Zubehör beschlagnahmt. Wie bereits bei einer ähnlichen Polizeiaktion im Juli 2022, lag der Schwerpunkt der Aktion in Deutschland, und zwar in Nordrhein-Westfalen. Hier eine Einordnung.

Bei der Razzia aufgefundenes Equipment für Bootspassagen. (Foto: Europol)

Die Polizeiaktionen im Juli 2022 und Februar 2024 verliefen nach einem fast identischen Muster; sie waren Ergebnisse derselben Zusammenarbeit deutscher Behörden mit Frankreich, Belgien und Großbritannien. Den Rahmen hierfür bietet die European Multidisciplinary Platform Against Criminal Threats (EMPACT), ein zu Europol zählende Plattform für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Grob gesagt, legt EMPACT in jährlich fortgeschriebenen Programmen Strategien für die Bekämpfung bestimmter Kriminalitätsbereiche, darunter Schleusungen, fest. Diese werden dann in einem koordinierten Verfahren von Arbeitsgruppen, den Operational Task Forces (OTF), umgesetzt. Je nach inhaltlichem und geographischem Fokus, arbeiten Behörden unterschiedlicher EU-Staaten in einer solchen OTF zusammen, bei Bedarf auch mit Nicht-EU-Staaten (wie Großbritannien) und europäischen Behörden wie Frontex und Eurojust.

Die Bekämpfung der Schleusungen nach Großbritannien mit Hilfe von Schlauchbooten war bzw. ist die Aufgabe der OTF Dune (November 2021 bis Oktober 2023) bzw. deren Nachfolgerin OTF Wave. Während die Razzien am 5. Juli 2022 aus der Arbeit von Dune resultieren, resultieren die vom 21. Februar 2024, darauf aufbauend, aus der Arbeit von Wave. Diese beiden „gemeinsamen Aktionstage“, wie die Polizeiaktionen offiziell genannt werden, stellen so etwas wie Kulminationspunkte der OTFs dar. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie sich gegen irakisch-kurdische Schleuser richten, jedoch weit im Vorfeld der eigentlichen Bootspassagen ansetzten und sich auf Deutschland fokussierten. Politisch flankiert wird dieses Vorgehen durch die Calais Group, in der seit 2021 einmal jährlich die Innenminister_innen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und der Niederlande zusammentreffen. Allerdings scheint seit Dezember 2022 kein solches Treffen auf Ministerebene mehr stattgefunden zu haben. (Zur Calais Group siehe ausführlich hier, zu den beiden Operational Task Forces hier.)

Europol betonte in einer Presseerklärung zum den aktuellen Razzien ausdrücklich die Bedeutung der OTFs Dune und Wave. Während sonst kaum Informationen über diese Arbeitsgruppen zu finden sind, gewährt die Behörde nun einen gewissen Einblick:

„An der OTF Wave, die von Europol koordiniert wird, sind Belgien, Frankreich, Deutschland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich beteiligt. OTF Wave zielt auf die gesamte Kette der Schmuggelaktivitäten ab – von der Anwerbung von Migranten über die logistischen Zellen bis hin zu den Hauptorganisatoren. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf fünf hochrangige Zielpersonen, da die Verfolgung dieser Verdächtigen entscheidend zur Zerschlagung der kriminellen Organisation als Ganzes beiträgt. Die engagierten Europol-Experten, die voll in die Arbeit der OTF eingebunden waren, trugen dazu bei, dass kriminelle Verbindungen zwischen mehreren nationalen Ermittlungen aufgedeckt werden konnten.“

Über die Ermittlungen, die der gemeinsamen Aktion vom 21. Februar 2024 vorausgingen, teilt Europol mit:

„Durch die Ende 2022 eingeleiteten Ermittlungen konnten die Struktur und die Vorgehensweise dieses großen kriminellen Netzwerks, das sich aus irakischen und syrischen Staatsangehörigen kurdischer Herkunft zusammensetzt, ermittelt werden. Die Verdächtigen, die alle in Deutschland ansässig waren, organisierten den Kauf, die Lagerung und den Transport von Schlauchbooten, um anschließend Migranten von den Stränden in der Nähe der französischen Stadt Calais nach Großbritannien zu schmuggeln. Das Schleusernetz war hochprofessionell. Die Verdächtigen hatten eine eigene logistische Infrastruktur mit speziellen Zweigstellen aufgebaut, die für die Organisation der Lieferung großer Mengen an nautischer Ausrüstung in die EU zuständig waren.“

Festnahme im Rahmen der Razzien am 21. Februar 2024. (Foto: Europol)

Im Verlauf des Aktionstages am 21. Februar wurden 19 Personen festgenommen, davon sieben auf Grundlage eines belgischen und zwöf eines französischen Gerichtsbeschlusses. Dazu gehörten laut Europol fünf „hochrangige Zielpersonen“ (High Value Targets), und zwar „der Anführer und die Hauptorganisatoren“. Insgesamt wurden 28 Objekte, und zwar 19 Häuser und neun Lagerräumlichkeiten, durchsucht. Beschlagnahmt wurden – die Angaben von Europol und Bundespolizei weichen hier voneinander ab – 12 bzw. 24 Schlauchboote, 175 bzw. 179 Schwimmwesten, 81 Schwimmhilfen für Kinder, 10 bzw. 14 Bootsmotoren sowie Luftpumpen, Halterungen für Außenbordmotoren, elektronische Geräte, eine oder mehrere Schusswaffen und Bargeld im Wert von einigen tausend Euro.

Alle Festnahmen und Durchsuchungen fanden in Deutschland statt. Aus der Presseerklärung der Bundespolizei geht hervor, dass diese im Auftrag der Staatsanwaltschaft Bonn tätig wurde und belgische und französische Ermittlungsanordnungen vollstreckte. Die Beschuldigten stünden im Verdacht, „Organisatoren und Logistiker sogenannter Seewegschleusungen über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu sein. Hierzu hielten sie nautisches Material bereit und verbrachten dieses an die französische Küste“. Insgesamt seien während der Polizeiaktion 689 Beamt_innen der Bundespolizei eingesetzt worden, darunter auch Spezialkräfte. Die Festnahmen seien in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt erfolgt. Der Schwerpunkt der Aktion lag „im Raum Düsseldorf, Köln, Bonn und östlich vom Ruhrgebiet“, so ein Sprecher der Bundespolizei auf unsere Anfrage.

Neben der Bundespolizei und der Bonner Staatsanwaltschaft wirkten an dem Aktionstag die Föderale Kriminalpolizei von Westflandern und die französische Grenzpolizei mit; letztere mit dem Office de lutte contre le trafic illicite de migrants / Antenne de Coquelle. Hinzu kamen belgische, französische und weitere deutsche Staatsanwaltschaften (Düsseldorf, Hamm, Köln und Naumburg). Ausdrücklich erwähnt Europol die Bedeutung der 2021 im Rahmen der bilateralen britisch-französischen Kooperation geschaffenen Ermittlungseinheit URO/CIC. Europol selbst unterstützte den Aktionstag durch die Entsendung von 33 französischen und zehn belgischen Ermittler_innen, die „an mehreren Standorten in Deutschland“ eingesetzt wurden. „Zusätzlich zu diesen Koordinierungsmaßnahmen entsandte Europol zwei Europol-Experten in das Koordinierungszentrum in Köln, um die deutschen Behörden beim Echtzeit-Abgleich operativer Informationen mit den Europol-Datenbanken zu unterstützen. Die Experten führten auch digitale Forensik durch und unterstützten die Ermittler vor Ort.“ Die europäische Justizbehörde Eurojust war in die Vorbereitungen involviert und richtete während des Aktionstages ein Koordinierungszentrum ein.

Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Ermittlungen gegen dieselbe irakisch-kurdische Organisation richtete, die vor allem im Raum Dunkerque bzw. im Jungle von Loon-Plage aktiv ist und der außerdem mehrere teils tödliche Gewaltakte zugeschrieben werden, die jedoch, soweit erkennbar, jedoch nicht Gegenstand der aktuellen Polizeiaktionen waren.

Vielmehr verweist Europol auf die seit längerem bekannte Anlieferung minderwertiger und nicht seetüchtiger Schlauchboote, „die hauptsächlich aus China stammen und über die Türkei nach Deutschland transportiert werden“. Insgesamt hätten die Ermittler_innen „Beweise für mindestens 55 Abfahrten gesammelt, die allein durch dieses Schleusernetz ermöglicht wurden“, jeweils mit rund 50 Personen pro Boot und zum Preis von 1000 bis 3000 Euro pro Person. Aus diesen Angaben lassen sich bei aller Vorsicht Einnahmen in der Größenordnung zwischen 2,75 und 8,25 Millionen Euro errechnen, wogegen die Beschlagnahmung einiger tausend Euro marginal erscheint. Wohl vor diesem Hintergrund kündigt Europol an: „Weitere Ermittlungen zu den Personen, die die Finanz- und Geldwäschetätigkeiten für das kriminelle Netzwerk verwalten, sind im Gange.“

Daneben beschäftigten sich die Ermittlungen naheliegenderweise mit dem Vorgehen beim Transport der Boote von Deutschland nach Frankreich. Laut Europol transportierten die Fahrer_innen bis zu acht Booten gleichzeitig und sicherten die eigentliche Ladung durch vorausfahrende Fahrzeuge gegen die Entdeckung durch die Polizei ab. „Die Fahrer wurden auf Rastplätzen in Belgien lokalisiert, bevor sie die Ausrüstung zum Zeitpunkt der Abfahrt an den Ort des Geschehens fuhren. Die Ermittlungen ergaben, dass das kriminelle Netzwerk in der Lage war, je nach Wetterlage bis zu acht Abfahrten pro Nacht zu ermöglichen“, so Europol.

Europol wertet den Aktionstag als Erfolg und behauptet, er habe „zur Zerschlagung eines der aktivsten Netzwerke“ geführt. Zurückhaltender spricht die Bundespolizei lediglich von einem „bedeutende[n] Schlag gegen ein großes international agierendes Schleusernetzwerk“. Aus unserer Sicht ist es nicht wahrscheinlich, dass die Polizeiaktion den Markt für kommerzielle Bootspassagen nachhaltig beeinflussen wird. Denn zum einen geht aus früheren EMPACT-Programmen hervor, dass die Behörden von einer Art Fernsteuerung professioneller Schleusungen ausgehen und sich die führenden Personen in Staaten aufhalten, wo sie für europäische Strafverfolgungsbehörden nicht greifbar sind. Eine solche Struktur kann bei einem irakisch-kurdischen Netzwerk angenommen werden, was bedeutet, dass es sich bei den Festgenommenen allenfalls um Funktionsträger der mittleren Ebene handeln dürfte. Zum anderen zeigt ein Vergleich mit den Razzien im Juli 2022, dass damals eine sehr viel größere Zahl von Booten und Ausrüstung beschlagnahmt wurde, ohne dass die Zahl der Passagen in der Folgezeit erkennbar einbrach. Im Gegenteil erwies sich das Jahr 2022 als dasjenige mit den meisten Bootspassagier_innen, doch weil die Anzahl der Boote durch den steigenden Kontroll- und Verfolgungsdruck abnahm, stieg die Zahl der Personen pro Boot – und damit auch das Risiko von Havarien – deutlich an.

Wie sich die Zusammenarbeit der Behörden im Hinterland der Bootspassagen in Zukunft entwickelt wird, ist offen. Das EMPACT-Programm für das Jahr 2024 ist nicht öffentlich zugänglich, bekannt ist aber, dass die OTF Wave zunächst für die Dauer von sechs Monaten mit der Möglichkeit einer Verlängerung eingerichtet wurden. Es ist also denkbar, dass bald eine andere Arbeitsgruppe an ihre Stelle treten wird. Ein Treffen der Innenminister_innen im Format der Calais Group könnte über die künftige Ausrichtung Aufschluss geben, doch scheint trotz des angestrebten jährlichen Turnus seit Dezember 2022 kein solches Treffen mehr stattgefunden zu haben. Großbritannien scheint bei den aktuellen Razzien überhaupt keine relevante Rolle gespielt zu haben. Der Abschluss finanziell hinterlegter Vereinbarungen mit der Türkei im August 2023 (siehe hier) und Bulgarien im Februar 2024 zeigt, dass die britische Regierung in jedem Fall die bilaterale Zusammenarbeit mit Staaten entlang der Migrationsrouten und Lieferketten ausbaut.