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Benelux & Deutschland

Eine toxische Verheißung

Das „Ruanda-Modell“ in den Europawahl-Programmen deutscher Parteien. Ein Überblick

Seit dem 13. April 2022 verfügt Großbritannien über eine Vereinbarung mit Ruanda. Sie soll Channel migrants den Zugang zu einem britischen Anerkennungsverfahren verwehren und sie gegen ihren Willen in das afrikanische Land transportieren, wo sie dann ein Verfahren nach dortigem Recht durchlaufen können. Bekanntlich sind bislang alle Versuche gescheitert, das Programm umzusetzen (siehe hier, hier, hier und hier). Ausgehend von der rechtsextremen AfD, haben mehrere deutsche Parteien es dennoch in die Programme aufgenommen, mit denen sie zur Europawahl am 6. Juni 2024 antreten. Hier ein Überblick über die Normalisierung eines toxischen Konzepts.

Beginnen wir mit der CSU. Der Bundesparteitag verabschiedete am 6. Mai 2023 ein neues Grundsatzprogramm mit dem Titel Für ein neues Miteinander. Das migrationspolitische Kapitel beschreibt, wie zu erwarten, eine konservative Agena, die in zentralen Punkten den ‚Asylkompromiss‘ der EU-Innenminister_innen vom 8. Juni 2023 vorwimmt. Ob die Auslagerung der Asylverfahren in Drittstaaten nach dem Vorbild des britischen Ruanda-Deals in das angestrebte Gemeinsame Europäische Asylsystems (GEAS) aufgenommen werden würde, war zu diesem Zeitpunkt offen. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass die CSU diesen Punkt offenbar nicht für so relevant hielt, ihn in ihr Grundsatzprogramm aufzunehmen.

Es sollte den Rechtsextremen überlassen sein, diesen Schritt zu gehen. Die AfD verabschiedete auf ihrer Europawahlversammlung am 29./30. Juli und 4.-6. August 2023 ein Europawahlprogramm mit dem Titel Europa neu denken. Eingebettet in die völkisch-nationalistische Ideologie der Partei, bezieht sich der Text ebenfalls auf das GEAS. Als erste deutsche Partei griff die AfD explizit den britischen Ruanda-Plan auf:

„Falls Asylbewerber trotz des Grenzschutzes nach Deutschland gelangen, müssen ihre Asylverfahren in einem dazu bereiten Drittstaat durchgeführt werden, wo sie im Falle der tatsächlichen Schutzbedürftigkeit auch Aufnahme finden (‚Ruanda-Modell‘).“ (S. 14)

Zu diesem Zeitpunkt war bereits mehr als ein Jahr vergangen, seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den ersten Abschiebeflug der britischen Regierung nach Ruanda per Eilentscheidung gestoppt hatte (siehe hier) – bis heute hat kein weiterer stattgefunden. Wenige Wochen vor dem AfD-PArteitag hatte ein britisches Gericht den Ruanda-Plan grundsätzlich für rechtskonform, in Teilen jedoch für rechtswidrig erklärt. Eine höchstinstanzliche Entscheidung stand jedoch aus und es war absehbar, dass bei einem weiteren Abschiebeversuch erneut der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen werden würde. Entgegen anderslautenden Behauptungen der britischen Regierung hatte sich der UNHCR gegen den Ruanda-Plan positioniert. Daher wäre es für die demokratischen Parteien in der Bundesrepublik ein Leichtes gewesen, sich genau dieses Thema nicht zueigen zu machen.

Stattdessen griff die CDU es im Zuge ihres konservativen Rollbacks auf. In medialen Statements bezogen sich im Herbst 2023 prominente Politiker der CDU (etwa Hendrik Wüst, Jens Spahn und Thorsten Frei) und CSU (etwa Alexander Dobrindt) positiv auf das britische Konzept, ebenso Politiker der FDP (etwa Christian Dürr und der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Joachim Stamp) sowie vereinzelte Stimmen in der SPD. Ruanda wurde damit zu einer ernsthaft, wenngleich kontrovers, debattierten Option deutscher Migrationspolitik, deren (angebliche) Notwendigkeit u.a. mit der (realen) Gefährdung der Demoktarie durch die AfD begründet wurde. In diesem Klima forcierten Teilnehmer*innen der Bund-Länder-Besprechung vom 9. November 2023 das Thema, indem sie einen (bis heute ergebnislosen) Prüfauftrag an die Bundesregierung richteten:

„Die Bundesregierung wird prüfen, ob Asylverfahren außerhalb Europas möglich sind. Geprüft werden soll, ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen kann.“

Etwa zur selben Zeit gelangten Passagen eines neuen Grundsatzprogramms an die Öffentlichkeit, mit dem sich die CDU durch eine betont konservative Neuausrichtung von der pragmatischen Ära Merkel abgrenzt. Die Partei griff dabei zu einer disruptiven Rhetorik des Systemwechsels, wie wir sie vom rechten Flügel der britischen Tories und von rechtsextremen ‚Alternativ‘-Parteien wie der AfD kennen. So fordert das Papier nicht nur die Auslagerung der Asylverfahrenin in Drittstaaten, sondern lehnt das individuelle Asylrecht als solches ab – eine Forderung, die den Rahmen des internationalen Flüchtlingsrechts wie auch des nationalen Verfassungsrechts bricht. Das Papier mit dem Titel In Freiheit leben. Deutschland sicher in die Zukunft führen wurde am 15. Januar 2024 vom Bundesvorstand der CDU einstimmig verabschiedet, soll zwischen dem 27. Februar und 22. März auf sechs Grundsatzprogramm-Konferenzen – der „Deutschlandtour“ – in Berlin, Hannover, Köln, Mainz, Chemnitz und Stuttgart von den Mitgliedern diskutiert und auf dem Bundesparteitag am 6. bis 8. Mai final beschlossen werden. Im Programmentwurf heißt es:

„Wir wollen das Konzept der sicheren Drittstaaten realisieren. Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren. Dazu wird mit dem sicheren Drittstaat eine umfassende vertragliche Vereinbarung getroffen.“

Auf ihrem Europaparteitag am 28. Januar 2024 verabschiedete auch die FDP ein Europawahlprogramm (Europa. Einfach. Machen. Entfesseln wir Europas Energie für mehr Freiheit und mehr) das die Exterritorialisierung der Asylverfahren beinhaltet. Darin heißt es:

„Wir wollen, dass Asylbewerber zur Bearbeitung des Asylverfahrens in sichere Drittstaaten überführt und bis zur Anerkennung des Asylantrags im Drittstaat untergebracht werden können – unter Gewährleistung humanitärer und rechtsstaatlicher Standards.“

Und an anderer Stelle:

„Wir wollen die Prüfung von Asylanträgen in Drittstaaten ermöglichen. So können Betroffene dort ausloten, ob sie eine Bleibeperspektive in der EU haben und gegebenenfalls auf eine gefährliche Flucht verzichten. Selbstverständlich unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Grund- und Menschenrechte.“

Einen Tag zuvor, am 27. Januar 2024, hatte sich der Verein Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als Partei konstituiert. Das am gleichen Tag beschlossene Europawahlprogramm fordert ebenfalls die Auslagerung der Asylverfahren in Drittstaaten:

„Rechtsstaatliche Asylverfahren an den Außengrenzen und in Drittstaaten wären der sicherste Weg, denjenigen, die wirklich Schutz benötigen, den Weg in die EU zu öffnen, auch wenn sie die finanziellen Mittel zur Bezahlung der Schlepper nicht aufbringen können, und all denjenigen, die kein Recht auf Asyl und daher eine Bleibeperspektive haben, den lebensgefährlichen und teuren Weg zu ersparen.“

Diese antimigrantische Ausrichtung einer sich selbst der Linken zurechnenden Partei wurde von der extremen Rechten aufmerksam verfolgt. „Wagenknecht-Partei bricht eine Lanze für das ‚Ruanda-Modell‘“, titelte etwa die neu-rechte Zeitung Jungle Freiheit im Vorfeld des BSW-Gründungsparteitags.

Lediglich zwei größere Parteien sprechen explizit gegen das Ruanda-Modell aus: SPD und Linkspartei. So hält die SPD in ihrem Europawahlprogramm Gemeinsam für ein starkes Europa (Stand: 28. Januar 2024) fest:

„Dabei ist klar, dass wir das individuelle Recht auf Asyl in Europa verteidigen und eine Auslagerung des Asylsystems auf Drittstaaten ablehnen.“

Ähnlich heißt es im Europawahlprogramm der Linkspartei vom November 2023:

„Es darf keine Auslagerung von Asylverfahren in Drittländer geben.“

Das Europawahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen bleibt hingegen unscharf. Das Papier mit dem Titel Was uns schützt akzeptiert die restriktiven Regelungen des GEAS, denen die Partei entgegen ihrer früheren Positionen im Herbst 2023 zugestimmt hat, will sie jedoch humanitär flankieren. So wird das „Konzept der sicheren Drittstaaten“ einerseits kritisiert („finden wir weiterhin falsch“), andererseits aber konkrete Anforderungen für den „Abschluss von sogenannten Rückführungs- oder Migrationsabkommen“ benannt. Ob Abkommen im Sinne des britischen Ruanda- oder italienischen Albanien-Deals damit gemeint sind, und wenn ja, ob sie als falsch abgelehnt werden oder unter Auflagen möglich erscheinen, ist auf der Grundlage der folgenden Formulierung kaum zu sagen:

„Eine Rückführung darf nur in Länder erfolgen, zu denen die betroffene Person eine klare Verbindung hat. Das Konzept der sicheren Drittstaaten finden wir weiterhin falsch. Der Abschluss von sogenannten Rückführungs- oder Migrationsabkommen muss menschenrechtsbasiert, die Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten partnerschaftlich und auf Augenhöhe erfolgen. Sie darf nicht von finanzieller Unterstützung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit abhängig gemacht werden.“

Keines der gesichteten Programme misst dem „Drittstaaten“-Konzept eine so zentrale Bedeutung für das Gelingen oder Scheitern der eigenen Politik zu, wie es die britische Regierung getan hat. Einige der zitierten Parteien knüpfen die Annäherung an das Ruanda-Modell zudem an Bedingungen wie die Vereinbarkeit mit internationalem Recht, was drauf hindeutet, dass sie die rechtlichen Grundlagen nicht von vornherein als gegeben ansehen. Aber gerade in dieser Konstellation zeigt sich, dass die extreme Rechte ein Agendasetting betreiben konnte, das die Mehrzahl der demokratischen Parteien dazu bewog, eine toxische Verheißung in ihre Programme hineinzukopieren. Profitieren dürfte am Ende die extreme Rechte, den Preis zahlen in erster Linie, aber nicht allein, Exilierte.