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Juristischer Rückschlag für den Ruanda-Plan

Das Vorhaben der britischen Regierung, Geflüchtete nach der Passage des Ärmelkanals unabhängig von ihrer Herkunft und gegen ihren Willen nach Ruanda abzuschieben, hat am heutigen 29. Juni 2023 einen Rückschlag erfahren. Dem in zweiter Instanz ergangenen Urteil zufolge ist der Ruanda-Plan der Regierung teilweise rechtswidrig, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass Ruanda betroffene Menschen weiter in ihr Herkunftsland abschiebt. Insofern könne Ruanda nicht als ‚sicheres Drittland‘ angesehen werden. Allerdings stellte das Gericht weder die Rechtswidrigkeit des Ruanda-Plans als solchen fest, noch sprach es Ruanda aus anderen Gründen, etwa aufgrund der Menschenrechts- und Sicherheitslage, den Status des ‚sicheren Drittstaats‘ ab. Gleichwohl könnte das Urteil für die antimigrantische Politik der Regierung Sunak zum Problem werden.

Das Urteil erging in einem Berufungsverfahren von zehn Asylsuchenden aus Syrien, Irak, Iran, Vietnam, Sudan und Albanien, unterstützt von Asylum Aid, vor dem Court of Appeal (Civil Division) in London. Die Kläger hatten den Ärmalkanal in small boats überquert und Bescheide erhalten, dass ihre Asylanträge in Großbritannien nicht geprüft werden, sondern sie nach Ruanda abgeschoben und ihre Asylverfahren dann nach ruandischem Recht durchgeführt würden.

In erster Instanz hatte der High Court am 19. Dezember 2022 sein Urteil in dem Fall gesprochen (siehe hier und hier). Damals wies das Gericht eine generelle Anfechtung des Ruanda-Deals ab, gestand jedoch individuelle Klagewege gegen die Deportation nach Ruanda zu. Die Regierung Sunak verkaufte die Entscheidung seinerzeit als juristischen Durchbruch. Allerdings machte das damalige Urteil auch deutlich, dass vor der ersten Abschiebung nach Ruanda – bislang wurde keine einzige Person auf der Basis des britisch-ruandischen Migrationsdeals vom 13. April 2022 nach Ruanda abgeschoben – langwierige juristische Auseinandersetzungen bevorstehen würden.

Die zentrale Frage des damaligen wie auch des aktuellen Verfahrens bestand, so eine zusammenfassende Darstellung des Londoner Gerichts, darin zu klären, „ob das ruandische Asylsystem in der Lage ist, zuverlässige verlässliche Ergebnisse zu liefern“. Das Berufungsgericht kam nun zu dem Schluss, „dass die Mängel des Asylsystems in Ruanda so groß sind, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass ein reales Risiko besteht, dass Personen, die nach Ruanda geschickt werden, in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden, wo sie Verfolgung oder andere unmenschliche Behandlung erfahren haben, obwohl sie in Wirklichkeit einen guten Anspruch auf Asyl haben. In diesem Sinne ist Ruanda kein ‚sicherer Drittstaat‘.“ Das Gericht stützte sich auf die bereits in erster Instanz vorliegenden Belege dafür, dass das ruandische Asylsystem beim Abschluss des Migrationsdeals unzureichend war. Zwar habe die ruandische Regierung die Behebung von Mängeln zugesichert. Doch sei nicht bewiesen, dass „dass die erforderlichen Änderungen zu diesem Zeitpunkt zuverlässig durchgeführt worden waren oder zum Zeitpunkt des Urteils hätten durchgeführt werden können.“

Mit diesem Urteil sind Abschiebungen nach Ruanda vorerst weiterhin nicht möglich, auf längere Sicht aber nicht ausgeschlossen. Insofern stellt es für potenziell betroffene Exilierte, aber auch für die zivilgesellschaftlichen und solidarischen Akteur_innen, zunächst einmal einen Zeitgewinn dar.

Abgesehen von einer Eilentscheidung, die am 14. Juni 2022 den ersten und einzigen Abschiebeflug nach Ruanda in letzter Minute stoppte (siehe hier), liegt bislang außerdem keine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor. Es ist durchaus denkbar, dass das europäische Gericht den Ruanda-Deal kritischer beurteilen würde als die nationalen Gerichte.

Für die stop the boats-Kamagne der rechtskonservativen Londoner Regierung dürfte jede weitere Verzögerung des Ruanda-Deals zum Problem werden. Dominic Casciani wies in einer ersten Einschätzung der BBC auf eine Wechselwirkung zwischen dem Urteil und der Illegal Migration Bill, also der zu Jahresbeginn vorgelegte Gesetzesentwurf der Regierung Sunak für ein extrem restriktives Migrationsrecht (siehe hier), hin: Denn das geplante Gesetz verpflichte das Innenministerium dazu, die meisten Asylsuchenden der Kanalroute in ein vermeintlich sicheres Drittland abzuschieben. „Aber in welche Länder?“, fragt Casciani und zitiert den Migrationsforscher Peter William Walsh mit der Feststellung: „Selbst mit dem Ruanda-Abkommen war nie klar, ob das einfach so gehen würde. Wenn es keine sicheren Drittländer gibt, die die Asylbewerber des Vereinigten Königreichs aufnehmen, kann der Kerngedanke dieser Politik nicht umgesetzt werden. Im Grunde genommen liegen alle Eier in einem Korb, und dieser Korb sieht brüchig aus.“

Casciani spielt ein Szenario durch, in dem die Regierung, wie von ihr angekündigt, den Fall vor den Obersten Gerichtshof, den Supreme Court, bringt. Dieser würde den Fall dann voraussichtlich im September oder Oktober behandeln. „Und das bedeutet, dass das Urteil möglicherweise nicht vor Ende des Jahres oder Anfang 2024 gefällt wird. Wenn die Regierung gewinnt, kann jede Person, die einem beabsichtigten neuen Flug zugewiesen wird, vielleicht im Februar oder März, ihre Zuweisung anfechten. Es könnten immer noch individuelle Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht werden. Und das alles im Countdown der Parlamentswahlen.“

Sollte der Ruanda-Plan am Ende scheitern, und sei es nur, weil er sich als kaum umsetzbar erweist, hätte dies auch eine Wirkung auf der kontinentaleuropäischen Seite des Ärmelkanals. Er wäre als realistische Option für eine weitere Verschärfung des europäischen Migrationsregimes dann vermutlich verbrannt. Populistische Debatten dürfte er dessen ungeachtet weiter befeuern.