Bootspassagen nach Großbritannien beginnen nicht nur im Küstengebiet bei Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer. In diesem Jahr legten auch von der Küste der Picardie mehr Schlauchboote nach Großbritannien ab. In der Folge verstärkten die Behörden dort ihre Präsenz. Der zunehmende Überwachungsdruck im Zentrum des Geschehens könnte das Ausweichen auf neue Küstengebiete verstärken.
Wie das französische Onlinemedium InfoMigrants berichtet, sind bereits seit dem 1. April 2024 drei Gendarmeriezüge im Küstengebiet an der Somme-Mündung stationiert, „die von Drohnen, Hubschraubern und einem Frontex-Flugzeug unterstützt werden“. Seit dem 1. September 2024 befindet sich dort auch eine nautische Brigade aus etwa zehn Booten. Diese patrouilliere „vor der Küste auf der Suche nach Migrantenbooten in Seenot“. Das Gebiet an der Somme-Mündung war auch Teil einer befristeten Austockung der Gendarmerie- und Polizeikräfte im Rahmen des LIIC-Programms (= lutte contre l’immigration irrégulière clandestine) während der Sommermonate gewesen (siehe hier).
Hintergrund ist die Ausweitung der Bootspassagen auf das Küstengebiet der Picardie südlich von Boulogne-sur-Mer, wo die Somme in den Ärmelkanal mündet und die Küste von Norden nach Westen abbiegt.
Gegenüber französischen Medien erklärte der Präfekt des Departements Somme, die Region sei seit Jahresbeginn „mit außergewöhnlichen Ausreiseversuchen konfrontiert“ und erstmals sei „die gesamte Küste […] von Ault bis Fort-Mahon-plage“ betroffen. Ziel der Behörden sei es, „die Aktionen der Schleuser, die die Not der Migranten ausnutzen, zu vereiteln und Menschenleben zu retten“. Zwischen dem 1. Januar und 20. September 2024 wurden dort laut Seepäfektur 406 Personen an der Überquerung des Ärmelkanals gehindert. 521 ereichten von dort aus Großbritannien, während es 2023 lediglich 109 Personen waren.
Das Ausweichen auf die Küstengebiete an der Somme ist eine Konsequenz der verstärkten Überwachung im Zentrum der undokumentierten Migration nach Großbritannien, also im Küstenstreifen von Boulogne-sur-Mer über Calais bis Dunkerque. Mit der größeren Distanz zur britischen Küste (der Ärmelkanal ist dort etwa dreimal so breit wie bei Calais) steigt auch das Risiko für die Passagier_innen. Vor diesem Hinterung kritisierte ein Sprecher von Utopia 56 die Verstärkung der Überwachungskräfte in der Picardie als einen Schritt in die falsche Richtung: „Was in der Picardie passiert, ist das, was in der Region Calais seit 30 Jahren passiert. Die Küste wird militarisiert, es werden enorme Polizeimittel eingesetzt, Spitzentechnologie, Drohnen, Flugzeuge, Stacheldraht, Mauern. Alles, was dadurch entstanden ist, sind Abreisen von weiter weg. Also steigt das Risiko, da die Entfernung zunimmt“, so ein Sprecher der NGO gegenüber dem Sender France3.
Bei über 25.000 Bootspassagen seit Jahresbeginn machen diejenigen aus der Picardie nur einen Bruchteil aus, doch könnte sich die Suche nach neuen Ablegestränden noch ausweiten. Denn auch aus dem noch weiter südwestlich gelegenen Küstengebiet bei Dieppe in der Normandie wurden in diesem Sommer mehrere Ablegeversuche gemeldet. Der Ärmelkanal ist dort etwa 130 Kilometer breit.
Hinzu kommt, dass in den Regionen um Calais und Dunkerque ein dichtes, historisch gewachsenes Netz humanitärer und solidarischer Initiativen besteht. Bereits in Boulogne-sur-Mer ist dies viel weniger der Fall, auch, weil das Phänomen der Bootspassagen dort erst seit wenigen Jahren existiert. Und während all diese Akteure das langgestreckte Küstengebiet von Dunkerque bis Boulogne einigermaßen überblicken, unkonventionell Hilfe leisten und das Geschehen dokumentieren, stoßen ihre Kapazitäten hier an klare Grenzen. Auch dies macht die Situation von Exilierten dort schwierig.