Kurz vor dem Ende des bislang tödlichsten Jahres auf der Kanalroute hat die französisch-britische Grenze vor Sangatte mindestens drei weitere Todesopfer gefordert.
Am frühen Morgen des 29. Dezember kam es beim Ablegen eines Bootes vom Strand des wenige Kilometer westlich von Calais gelegenen Sangatte zu „Schwierigkeiten“ , so ein Bericht der zuständigen Maritimen Präfektur (Premar) in Cherbourg. Demnach blieben etwa 50 Personen im Wasser und am Strand zurück. Obwohl die Rettungsstelle am nahegelegenen Cap Gris-Nez mit drei Schiffen und einem Kanu im Einsatz war und Unterstützung von einem Marinehubschrauber erhielt, konnten drei Personen nur tot geborgen werden. 45 weitere wurden gerettet, zahlreiche davon wegen Unterkühlung versorgt, vier in Krankenhäuser eingeliefert.
Damit steigt die Zahl der Todesopfer im Ärmelkanal in 2024 auf mindestens 76. Sie liegt damit höher als jene der vorangegangenen fünf Jahren zusammen, seit Boote LKW als gängiges Transportmittel auf dieser Migrationsroute ablösten. Vor allem seit dem Sommer kam es phasenweise wöchentlich, manchmal selbst an mehreren Tagen hintereinander, zu neuen Todesfällen, die sich immer häufiger – genau wie in diesem Fall – beim Einsteigen und Ablegen von Booten ereigneten. Im Spätherbst wurden über mehrere Wochen zudem insgesamt 16 Leichen angespült oder in Strandnähe im Wasser des Ärmelkanals gefunden.
Bezieht man andere Todesopfer mit ein, die mit der Militarisierung der anglo-französischen Grenze in Zusammenhang stehen, sind es mindestens 88 Menschen, die hier seit Jahresbeginn ihr Leben verloren. Umso auffälliger ist diese Häufung angesichts der Tatsache, da die Grenze seit 1999 mindestens 481 Leben forderte. Den Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Todesfällen beklagen lokale NGOs seit Jahren. Im Herbst räumte ihn auch der französische Innenminister Bruno Retailleau überraschend unverblümt ein.
Bei den drei Opfern dieses 29. Dezember handelt es sich um erwachsene Männer, wie die Regionalzeitung La Voix du Nord den Bürgermeister von Sangatte, Guy Allemand, zitiert. In einem BBC-Bericht wird Allemand weiterhin mit den Worten zitiert: „Es hört niemals auf. Es ist eine Überfahrt nach der anderen, ohne Unterlass.“
In der Phase mit relativ ruhigem Wetter seit Weihnachten wurden an den vier vorangehenden Tagen die Passagiere von 32 small boats von der britischen Küstenwache nach Dover gebracht – insgesamt 1.485 – die höchste Zahl um die Weihnachtszeit seit 2018. 36.525 Personen haben 2024 bislang auf diesem Weg Großbritannien erreicht
– die zweithöchste Zahl nach 2022.
Im Kanal wurde nach dem Fund der drei Leichen weiter nach Schiffbrüchigen gesucht, bislang erfolglos. Die Wassertemperatur im Ärmelkanal liegt aktuell bei knapp unter zehn Grad. Die Überlebenschancen sind bei diesen Bedingungen sehr gering, auch eine Rettungsweste, die im Übrigen längst nicht alle Passagiere tragen, kann dagegen nichts ausrichten.
Zur Illustration: Unter Winterschwimmer*innen gibt es eine Faustregel, die dazu rät, die Zahl der Minuten im Wasser solle etwa der Temperatur in Grad Celsius entsprechen. Dies gilt wohlgemerkt für Sportler*innen mit langer Erfahrung unter entsprechenden Bedingungen – und selbst die berichten regelmäßig davon, dass sie im Wasser zunächst ihre Atmung unter Kontrolle bringen müssen.
Zum genauen Hergang der Ereignisse vor Sangatte finden sich bei La Voix du Nord folgende Details. „Am Strand befand sich eine Gruppe von etwa 80 Menschen in Not, die einen Krankenwagen brauchten. Wir fanden etwa fünfzig Menschen vor, die von großer Not und Unterkühlung durchnässt waren“, wird eine Angehörige der NGO Auberge de Migrants zitiert. Weiter heißt es, ein Boot hätte mit 60 Passagieren ablegen wollen, während 50 weitere versucht hätten, an Bord zu gelangen, sodass Panik entstanden sei.
Am Nachmittag betitelt die Regionalzeitung einen weiteren Artikel zum Thema: „Die Küste beschließt das Jahr, wie sie es eröffnet hat, in den Leichentüchern des Exils.“
[Update, 30. Dezember 2024: Eine weitere Leiche wurde an einem Strand nahe Calais entdeckt. Es handelt sich wahrscheinlich um ein viertes Opfer der Katastrophe vom Vortag.]