Zum ersten Mal seit 2020 (siehe hier) besuchten die Innenminister_innen Frankreichs und Großbritanniens am 27. Februar 2025 die nordfranzösische Küste, um über die Bekämpfung der irregulären Migration zu sprechen. Ihre Reise gibt einen Einblick in die Vorhaben der kommenden Monate, wirft aber zugleich ein Schlaglicht auf Verwerfungen innerhalb der gemeinsamen Grenzpolitik.
Der französische Innenminister Bruno Retailleau hatte zuletzt im Dezember 2024 die Küste besucht, nachdem ein Kollektiv von Bürgermeister_innen mehrerer Küstengemeinden einen Forderungskatalog zur Bekämpfung der Migration vorgelegt hatte. Das Papier zielt auf ein härteres Vorgehen gegen Migrant_innen, fordert aber auch eine Neuverhandlung des britisch-französischen Abkommens von Le Touquet aus dem Jahr 2003, das vorgelagerte britische Grenzkontrollen auf französischem Staatsgebiet regelt (siehe hier). Das Abkommen bildet den Kern des bestehenden Grenzregimes, seine Aufkündigung wurde in der Vergangenheit aber auch von rechtsgerichteten französischen Politiker_innen gefordert, die darin ein Druckmittel gegen London sahen.
Retailleau kam den Bürgermeister_innen entgegen, indem er einen Teil ihrer Forderungen aufgriff, ohne Le Touquet in Frage zu stellen. Weil Geflüchtete auf dem Weg zu den Ablegestränden oder nach gescheiterten Passagen häufig öffentliche Verkehrsmittel nutzen, hatten die Bürgermeister_innen Polizeipatrouillen im Öffentlichen Personennahverkehr von Calais, Dunkerque und Boulogne-sur-Mer gefordert. Seit dem 31. Januar 2025 sind zu diesem Zweck 32 Polizeibeamt_innen eingesetzt, die noch durch 13 Gendarmen verstärkt werden. Ein weiteres Entgegenkommen Retailleaus gegenüber den Bürgermeister_innen war die Einrichtung einer speziellen polizeilichen Mission zur Bekämpfung der irregulären Migration. Die Mission besteht inzwischen und ist dem Delegierten Präfekten für Verteidigung und Sicherheit (préfet délégué pour la défense et la sécurité) der Region Hauts-de-France unterstellt. Nicht zuletzt zeigt der Minister sich offen für die verlangte Wiedereinführung des Straftatbestands des Illegalen Aufenthalts, was die Exilierten im Küstengebiet pauschal kriminalisieren würden.
Retailleaus Besuch am 27. Februar stand zunächst in genau diesem politischen Kontext. Wie die Zeitung La voix du Nord im Vorfeld berichtet, wollte der Minister zunächst die Küstenorte Étaples und Le Touquet besuchen, „um über die Migrationskrise, den Bau einer Polizeistation an der Küste und die mögliche Rückkehr des Hubschraubers Dragon 62 des Zivilschutzes zu sprechen“ (dieser war 2014 nach Guyana verlegt worden). Danach sollte Retailleau in Calais Bürgermeisterin Natacha Bouchart und Vertreter_innen anderer Küstengemeinden treffen.
Das Zusammentreffen mit der britischen Innenministerin Yvette Cooper veränderte den politischen Kontext des Besuchs. Er stand nun vor allem im Zeichen britisch-französischer Meinungsverschiedenheiten über die Verwendung der Mittel aus dem Sandhurst-Fonds. Der nach dem 2018 geschlossenen britisch-französischen Vertrag von Sandhurst benannte Fonds ist das zentrale Instrument zur britischen Finanzierung der Migrationsabwehr auf französischem Hoheitsgebiet. „Eine Delegation des [französischen] Innenministeriums reiste am 21. Februar […] nach London, um das Thema anzusprechen. Die Verwendung und die Auswahl der Ausgaben aus den Sandhurst-Fonds durch die Franzosen würden den Briten jedoch überhaupt nicht gefallen. Diese würden eine drastische Kürzung der 543 Millionen Euro, die auf den Zeitraum 2022 bis 2025 verteilt sind, in Erwägung ziehen“, so La voix du Nord. Völlig offen sei die Finanzierung im Folgezeitraum bis 2029.
Bei ihrem Treffen 27. Februar in Le Touquet lösten Retailleau und Cooper das Finanzierungsproblem nicht, wendeten aber ein kurzfristige Krise ab. La Voix du Nord fasst zusammen: „Es wurde keine Einigung über die Höhe des neuen Finanzrahmens für den Zeitraum 2026 bis 2029 erzielt. Franzosen und Briten konnten sich gerade noch auf einen Zusatz zu dem noch laufenden Abkommen (2022 bis 2025) einigen, in dem ein viertes Jahr in Höhe von 25 Millionen Euro hinzugefügt wurde.“
Dieses Geld fließt vor allem in Baumaßnahmen, vor allem die Einrichtung eines neuen Verwaltungshaftzentrums (Centre de rétention administrative; CRA) bei Dunkerque, bei dem sich faktisch um ein Abschiebegefängnis handelt. Das Projekt ist Teil eines französischen Programms zum landesweiten Ausbau der Abschiebehaftplätze; im März 2023 hatte der damalige britische Innenminister Sunak die Finanzierung des CRA bei Dunkerque durch sein Land bekannt gegeben (siehe hier).
Das Treffen Retailleaus und Coopers unterstrich, dass die von den Bürgermeister_innen geforderte Neuverhandlung des Grenzregimes nicht zur Debatte steht. Retailleau nutzte das Treffen vielmehr für eine Art Leistungsschau der bestehenden Küstenüberwachung. „Sie zogen eine gute Show für ihre britischen Besucher ab – und erzählten einige düstere Geschichten über Gewalt an der Küste und über Rettungen –, aber die wirkliche Action findet jenseits des Paradeplatzes statt. Französische Piloten sind jetzt fast jeden Tag in der Luft, um mit Wärmekameras Migranten in den Dünen aufzuspüren“, kommentiert BBC und fügt eine Detailbeobachtung hinzu: „Im örtlichen Hauptquartier der Gendarmerie Nationale tragen die Teams der Militärpolizei jetzt ein Nato-ähnliches Ärmelabzeichen ‚Mission Small Boat‘.“
Retailleau machte deutlich, dass entlang der Küste inzwischen täglich 1200 Ordnungskräftekräfte im Einsatz seien, von denen 730 auf der Basis des Sandhurst-Abkommens durch Großbritannien finanziert würden. Er verwies auf die erwähnten Patrouillen im Öffentlichen Personennahverkehr sowie auf eine geplante Aufstockung der Einsatzkräfte in der warmen Jahreszeit um 122 Personen. Solche Personalverstärkungen während der Monate mit besonders vielen Bootspassagen hat es bereits in den vergangenen Jahren gegeben. Retailleau erwähnte außerdem die Fortführung von Schulungen zur Küstenüberwachung und kündigte Verbesserungen bei der Strafverfolgung von Schleusernetzwerken an. Ganz im Sinne der britischen Strategie betonte er die Vorfeldbekämpfung der Migration in den Transitländern innerhalb und außerhalb der EU sowie in Herkunftsländern; er habe kürzlich mit dem Außenminister des Irak über irakisch-kurdische Schleuser gesprochen.
Wenig von dem ist neu. Eine Ausnahme ist die Ankündigung, Großbritannien werde in Zukunft die Rettungsdienste des Departements Pas-de-Calais mitfinanzieren. Retailleau bezifferte den Anteil der Rettungseinsätze, die Migrant_innen auf See oder an Land gelten, auf zwölf Prozent.
Neu war auch Retailleaus Ankündigung, möglicherweise die Einsatzdoktrin an den Stränden zu ändern, um auf veränderte Techniken von Schleusern zu reagieren. Diese Überlegungen zielen auf Phänomen der sogenannten Taxiboote, die zunächst ohne Passagier_innen ablegen und diese dann später an Bord nehmen, oft unter lebensgefährlichen Umständen. BBC-Reporter Dominic Casciani berichtet, Retailleau habe ihm im Vorfeld des Treffens erklärt, „er wolle nun die komplizierten Seeregeln ändern, um es seinen landgestützten Einheiten zu ermöglichen, diese Taxiboote abzufangen, wenn sie in seichten Gewässern liegen. Das ist es, was die Briten seit Jahren von den Franzosen gefordert haben.“ Laut InfoMigrants sprach Retailleau von einem 300 Meter breiten Küstenstreifen, in dem die maritimen Kräfte der Gendarmerie Nationale in Zukunft gegen solche Boote vorgehen könnten.
Von den Ankündigungen im Rahmen des britisch-französischen Treffens ist dies die vielleicht gravierendste, denn sie könnte eine Weg zu regelmäßign Pullbacks eröffnen und indirekt zu noch riskanteren Situationen in den bereits jetzt besonders gefährlichen Küstengewässern beitragen.
Festzuhalten bleibt aber auch, dass die nun zugesagten Gelder lediglich bereits bestehende Vorhaben absichern und Retailleau seiner britischen Amtskollegin zumeist nur bestehende oder marginale Maßnahmen vortrug. Ist das Grenzregime damit an die Grenze des Machbaren gestoßen, oder stehen die Verhandlungen, wie Casciani vermutet, „vielleicht kurz vor einem Durchbruch“ und 2025 könnte zu dem Jahr werden, „in dem sich die Dinge zu ändern beginnen“?
Realistischer könnte der Kommentar der NGO Osmose 62 aus Boulogne-sur-Mer sein: „Die Bürgermeister der Küstenregionen sehen heute Morgen grau aus. Vielleicht hat das Meer wieder eine oder zwei Leichen ausgespuckt, vielleicht haben sie gerade erst begriffen, was alle schon wussten: Der Staat wird keinen Finger rühren. Retailleau und Cooper griffen zur Feder, kritzelten zwei oder drei wohlklingende Zeilen, und zack! Die Sache ist erledigt. Das Abkommen von Le Touquet wird nicht angetastet, und England stellt einen Scheck für ein Jahr aus. Nicht mehr, man muss nicht übertreiben. Das reicht, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass sich irgendwo jemand noch ein wenig darum kümmert. In der Zwischenzeit arbeitet das Meer. Es arbeitet hart. Es schluckt, verdaut, spuckt aus. Die Hilfsorganisationen schreien, die Abgeordneten betteln, aber der große Zirkus geht weiter. Die Polizei räumt, die Camps wachsen wieder, und die Minister sind schon weitergezogen. […] Was tun wir also? Empört man sich ein wenig, schreibt Verlautbarungen und geht nach Hause in die Wärme? Oder bewegen wir uns wirklich? Denn wenn wir immer nur wegschauen, werden wir irgendwann gar nichts mehr sehen.“