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Channel crossings & UK

Noch nie so viele Bootspassagen im Winter

Geflüchtete auf dem Weg zu einem Schlauchboot. (Foto: Osmose 62)

In den ersten drei Monaten des Jahres 2025 passierten annähernd 6.642 Menschen den Ärmelkanal in Schlauchbooten. Es ist der höchste jemals registrierte Wert für diesen Zeitraum und ein Anstieg von 22 % gegenüber dem Vorjahr. Auch befanden sich im Durchschnitt noch nie so viele Menschen an Bord. Insgesamt setzt sich ein Ausweichen auf die ungünstigere Jahreszeit fort (siehe hier), dem in geographischer Hinsicht ein Ausweichen auf weiter entfernte Küstengebiete entspricht. Zum ersten Mal wurde ein Notruf aus dem Seegebiet vor Cherbourg dokumentiert.

Die britischen Behörden registierten vom 1. Januar bis 31. März die Ankunft von 119 Schlauchbooten, auf denen sich 6.642 Menschen befanden. Längere Schlechtwetterperioden ohne Überfahrten wechselten sich mit Wetterfenstern ab, in denen nicht selten einige hundert Menschen pro Tag übersetzten. Der am stärksten frequentierte Tag des Winters war der 2. März, an dem fast 600 Menschen in elf Booten das Meer überquerten.

Noch nie war die Kanalroute im ersten Quartal eines Jahres so stark frequentiert, und noch nie waren die Boote so stark überfüllt. Zum Vergleich: In den ersten drei Monaten des Jahres 2021 waren es 1.363 Menschen bzw. 74 Boote, im Jahr 2022 erreichte die Zahl ihren bisherigen Höchstwert von 4.548 Menschen bzw. 147 Booten. Danach waren es 3.837 Menschen bzw. 92 Boote im Jahr 2023 und 5.425 Menschen bzw. 114 Boote im Jahr 2024. Die durchschnittliche Anzahl von Personen pro Boot stieg im Vergleichszeitraum von 18,4 (2021) auf 30,9 (2022), 41,7 (2023), 47,7 (2024) und 55,8 in diesem Jahr. Die Boote sind um etwa das Dreifache ihrer Kapazität überladen.

Bereits in den vergangenen Jahren hatte sich das Gebiet, von dem aus die Boote ablegen, von Boulogne-sur-Mer aus südlich in Richtung Somme-Mündung ausgeweitet. Die dort gelegenen Strände sind inzwischen regelmäßige Ausgangspunkte für Bootspassagen, aber auch Schauplätze dramatischer Unglück- und Todesfälle.

Ein Beispiel für diese Ausweitung ist der 24. März 2024. An diesem Tag geriet ein Boot mit etwa 50 Geflüchteten, darunter sieben Kinder, vor der Somme-Bucht in Schwierigkeiten. Mehrere Stunden lang beobachteten zivile Rettungskräfte, wie die Menschen gegen Wind und Wellen ankämpften, um in britische Gewässer zu gelangen. Am Ende baten sie um Hilfe und wurden im Zuge eines größeren Rettungseinsatzes an Land gebracht. Dieser Einsatz fand im Seegebiet vor Cayeaux statt, also südwestlich der Somme in Richtung Normandie.

Bereits im vergangenen Jahr wurden auch in der Umgebung von Dieppe mehrere Gruppen von Geflüchteten auf dem Weg nach Großbritannien bemerkt. Dieppe liegt weiter westlich in der Normandie, etwa 200 Kilometer von Calais entfernt. InfoMigrants warnte damals: „Die Entfernung zwischen Dieppe und den Stränden von Kent beträgt mehr als 130 Kilometer. Außerdem ist die Region von Klippen geprägt, was das Zuwasserlassen der Boote erschwert.“ Am 16. Januar 2025, so dasselbe Onlinemedium, wurden „fast 50 Exilierte […] am Strand von Puys in Dieppe […] von den Behörden abgefangen. Sie waren dabei, ein behelfsmäßiges Boot zu besteigen, um den Ärmelkanal zu überqueren.“ InfoMigrant sieht hierin eine Ausweichbewegung von Schleusern aufgrund der massiven Überwachung der Küste bei Calais, Dunkerque und Boulogne-sur-Mer.

Lokalisierung eines Schlauchbootes im Seegebiet vor Cherbourg, 21. März 2025. (Quelle: Utopia 56 / Bluesky).

Am Morgen des 21. März 2025 erhielt die NGO Utopia 56 zum ersten Mal einen Notruf aus einem noch weiter entferten Gebiet des Ärmelkanals. Laut Geolokalisation befand sich das Boot zwischen Cherbourg und der britischen Küste. An Bord seien 66 Menschen gewesen, darunter auch Kinder. Die Position des Bootes spricht dafür, dass es im Norden der Halbinsel Cotentin in See gestochen ist, durch die sich der Ärmelkanal verengt. Dennoch ist die zurückzulegende Distanz vergleichbar mit Dieppe.

Nach wie vor beginnt die Mehrzahl der Überfahrten jedoch zwischen Dunkerque und der Somme-Bucht, wo – ebenfalls eine Folge der Küstenüberwachung – verstärkt sogenannte Taxiboote zum Einsatz kommen. Die in Boulogne-sur-Mer aktive Gruppe Osmose 62 dokumentierte am 24. März 2025 die damit verbundenen Belastungen und Risiken. An diesem Tag warteten etwa 40 Geflüchtete zwischen Hardelot und Ecault, manche von ihnen mit kleinen Kindern auf dem Arm, im Wasser stehend zwei Stunden lang auf ein solches Boot. „Trotz der offensichtlichen Gefahren und der unwirtlichen Temperaturen standen sie dort, ihre Blicke auf den Horizont gerichtet, und warteten verzweifelt […]. Mit jeder Minute, die verging, wurde ihr Stress noch größer, eine herzzerreißende Mischung aus Hoffnung und Angst. Das Risiko war immens […]. Die Wellen waren zwar manchmal ruhig, aber immer unberechenbar, und die körperliche Erschöpfung verband sich mit intensiver psychischer Not. Als endlich ein Boot ankam, war das für sie nicht die ersehnte Erleichterung. Das Boot war sehr schnell überfüllt […]. Trotzdem klammerten sich die Exilierten an diese dürftige Gelegenheit“. Osmose 23 weist einmal mehr darauf hin, dass sich solche Szenen „allzu oft wiederholen“.

Während des ersten Quartals starben mindesens acht Menschen im Zusammenhangt mit Bootspassagen. „Diese dramatische Realität spielt sich vor dem Hintergrund ab, dass die Mittel für Repression an dieser Grenze immer weiter erhöht werden – eine Investition, die monatlich 12 Millionen Euro erreicht“, kommentiert Utopia 56 die Entwicklung: „Flugzeuge, Drohnen, schwimmende Barrieren, Geländewagen, Wärmebildkameras und 1.000 eingesetzte Polizisten bewirken nichts anderes, als dass die Risiken und die Gewalt zunehmen.“ Allein im März seien die Teams der Organisation „von über 5.000 Frauen, Männern und Kindern kontaktiert“ worden, „die oft nach einem gescheiterten Überfahrtversuch durchnässt und traumatisiert waren. Diese Worte können nicht die Gewalt und das Leid widerspiegeln, die die Menschen, denen sie begegneten, empfanden.“