Kategorien
Channel crossings & UK

Absehbare Zielscheibe

Graffiti am Zugang zum Jungle in Calais im Jahr 2016. (Foto: Calais Border Monitoring).

Mit einem geplanten Rücknahme-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich will die Labour-Regierung Handlungsfähigkeit bei der Bekämpfung der Kanal-Überquerungen demonstrieren. Dass ihr das gelingt, ist allerdings äußerst unwahrscheinlich.

Mehrere britische Medien berichteten in dieser Woche, die Labour-Regierung des Vereinigten Königreichs habe Verhandlungen mit der französischen über ein Rücknahme-Abkommen von Geflüchteten aufgenommen. Laut der BBC geht es dabei um „illegale Migrant*innen, die den Ärmelkanal in small boats überquert haben“. Im Gegenzug sollte Großbritannien im Rahmen des Familiennachzugs „legale Migrant*innen“ aufnehmen. Dabei gelte nach Auskunft des französischen Innenministeriums ein Schlüssel von 1:1. Ziel sei es Schleuserbanden zu entmutigen.

Das Projekt ist im Kontext der Konzeptänderung britischer Asylpolitik zu sehen, die sich mit dem Regierungswechsel von den Konservativen hin zu Labour im letzten Sommer vollzog. Unter dem neuen Premierminister Keir Starmer wurde der vorherige Plan, unerwünschte Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben, der freilich nicht zur Ausführung kam, aufgegeben. Stattdessen setzt man verstärkt auf Bekämpfung der Schleuser-Aktivitäten und -Netzwerken – intern durch die Koordination von Polizei- und Sicherheitsdiensten im Border Security Command, aber auch im breiteren internationalen Rahmen.

Letzteres betrifft vor allem die Calais Group: unter diesem Namen arbeiten die Innenministerien der Kanal-Anrainer Großbritannien und Frankreich sowie Belgiens, Deutschlands und der Niederlanden mit EU-Kommission, Europol und Frontex zusammen. Beim letzten Treffen der Gruppe im Dezember in London wurde mit dem sogenannten Prioritäten-Plan 2025 ein Dokument verabschiedet, das intensivierte Kooperation und Strafverfolgung, weitere gemeinsame Ermittlungen auch über Finanzquellen, bessere Übersicht über Migrationsrouten und mehr Aufklärung potentieller Bootspasagier*innen vorsieht, nicht zuletzt bezüglich der Social Media-Aktivitäten der Schleuser-Netzwerke.

Da die Zahlen der über den Kanal Eingereisten 2024 im Vergleich zu 2023 stark zunahmen, steht die Labour-Regierung allerdings schon seit längerem unter erheblichem Druck. Die konservative Presse widmete sich schon wenige Wochen nach ihrem Antritt genüsslich Statistiken zum Anstieg der Überfahrten – ein Phänomen, das sich jeden Sommer wiederholt, nun jedoch mit der Amtsübernahme Starmers begründet wurde.

Die vor einem Jahr abgewählten Tories werfen Starmer und seiner Innenministerin Yvette Cooper seit Monaten vor, mit dem Ende des Ruanda-Plans ein Element der Abschreckung aus den Händen gegeben zu haben. Die rechtspopulistische Partei Reform UK scheint von der Entwicklung zu profitieren: Eine Umfrage im März sieht die drei Parteien so gut wie gleichauf.

Lilian Greenwood, die Transportministerin, bestätigte nun Verhandlungen mit der französischen Seite, um den „schrecklichen und gefährlichen Menschenhandel über den Kanal“ zu stoppen. Ein Pilot-Abkommen mit Frankreich könnte auch ein Wegbereiter für entsprechende Rücknahme-Regelungen mit anderen EU-Staaten sein. Starmer hatte ein solches Abkommen mit der gesamten EU schon vor seiner Wahl in Aussicht gestellt.

Peter Walsh, Forscher am der Universität Oxford angegliederten Migration Observatory-Institut, kommentierte gegenüber der BBC, das geplante Abkommen verhindere nicht die britische Verantwortung gegenüber Asylbewerber*innen im Land, doch eine „ausreichend große“ Anzahl Rückführungen hätte abschreckende Wirkung.

Laut Chris Philip, dem konservativen Schatten-Innenminister, wird der Plan genau daran scheitern, denn es werde „nur eine kleine Anzahl illegaler Einwanderer*innen nach Frankreich zurückgebracht“. Im Gegensatz zum Ruanda-Plan seiner Partei habe ein solches Abkommen mit Frankreich keinen abschreckenden Effekt. Lee Anderson, Abgeordneter der rechtspopulistischen Reform UK, sagte, statt Abkommen zu schließen sollte der Fokus darauf liegen, die Grenzen „zu sichern und zu schließen“. Die Liberal Democrats dagegen sehen in dem Vorhaben einen „positiven Schritt“, den sie unterstützen wollen, um die „gefährlichen Überfahrten“ zu beenden.

Davon freilich kann derzeit keine Rede sein
– im Gegenteil. Nachdem 2024 das Jahr mit den bisher zweitmeisten Überfahrten war: über 36.000 Personen erreichten Großbritannien – waren es in den ersten dreieinhalb Monaten 2025 mehr als 9.000. Dies ist die höchste Zahl in einem ersten Quartal seit Beginn der Überfahrten 2019. Im Vergleich zum letzten Jahr ist dies ein Anstieg von 42 Prozent; gegenüber 2023, als die Zahlen rückläufig waren, sind es 81 Prozent mehr. Am Dienstag vor Ostern erreichten 705 Personen in 12 Booten britische Gewässer – der höchste Tageswert in diesem Jahr.

Die rechte Tageszeitung Daily Express konstatierte, dadurch steige der Druck auf Starmers „smash the gangs“-Politik (siehe hier und hier). Chris Philp, den Schatten-Innenminister, zitiert sie mit den Worten: „Dies unterstreicht, was wir alle wussten: Keir Starmer hat die Kontrolle über unsere Grenzen verloren.“ Nach dem Ende des Ruanda-Plans sei Starmers einziges Konzept zum Schutz der Grenzen, für schlechtes Wetter zu beten. Nigel Farage, der aus dem Schüren von Überfremdungs-Ängsten sein Kerngeschäft und einen der prominentesten Agenda-Punkte seiner Partei Reform UK gemacht hat, warnt einmal mehr lauthals vor einer „Invasion“.

Damit dürfte der Ton für den kommenden Sommer gesetzt sein – und für ein Jahr, in dem neue Höchstwerte wahrscheinlich sind, bei Überfahrten ebenso wie bei Todesfällen an der anglo-französischen Grenze. Auf das Narrativ vom „schwachen“ Premier Starmer (Chris Philp) werden Tories, Reform UK und weitere migrationsfeindliche Kräfte zweifellos weiterhin setzen.

Dass die Selbstinszenierung von Labour als diejenigen, die die Schleuser-Netzwerke bei ihren kriminellen Wurzeln packen, dagegen nicht ankommen wird, ist mehr als absehbar. Auch weitreichende Schritte, wie sie unlängst bei einem Besuch Yvette Coopers an der französischen Kanalküste zwischen den beiden Anrainern vereinbart wurden, werden das nicht ändern. Dazu zählen zusätzliche Drohnenpiloten zum Abfangen von Booten, Finanzierung einer neuen französischen Elite-Einheit zur Patrouille an den Stränden ab Mai oder eine spezialisierte Geheimdienst-Einheit in Dunkerque, um gegen Schleuser zu ermitteln und diese zu verfolgen.

Gleiches dürfte für das angestrebte Abkommen mit Frankreich gelten. Dieses soll offenbar einen Brückenschlag darstellen zwischen einem sozialdemokratisch-humanen Ansatz beim Familien-Nachzug und dem rechtspopulistischen Anspruch einer Rückführung illegalisierter Migrant*innen dorthin, woher sie bei der letzten Etappe ihrer Reise kamen, über den Ärmelkanal. Dass die Zahl der Einwandernden in der Summe damit gleich bleibt, macht den Plan schon vor seiner Vollendung zur absehbaren Zielscheibe der Anti-Migrations-Propaganda.