
Eine Woche nach dem britisch-französischen Gipfel (siehe hier) trafen in London am 17. Juli 2025 Premierminister Keir Starmer und Bundeskanzler Friedrich Merz sowie die Außenminister beider Staaten zusammen. Sie unterzeichneten einen Vertrag über Freundschaft und bilaterale Zusammenarbeit und beschlossen einen gemeinsamen Aktionsplan. Darin geht es auch, aber nicht vorrangig, um die Migration auf der Kanalroute. Eine konkrete Folge dürfte eine Änderung des deutschen Strafrechts sein, um Handlungen im Zusammenhang mit Schleusungen nach Großbritannien zu kriminalisieren.
Der Kensington-Vertrag
Das Dokument – nach dem Ort seiner Unterzeichnung kurz Kensington-Vertrag genannt – ist nicht in erster Linie ein migrationspolitisches Abkommen. Er soll vielmehr die Beziehungen beider Staaten angesichts der militärischen Bedrohung durch die Russische Föderation und der Destabilisierung des transatlantischen Westens festigen. Entsprechend nehmen Verteidigung, Rüstung und Sicherheit breiten Raum ein. Hinzu kommen wirtschafts-, gesellschafts-, klima-, energie- und umweltpolitische Themen.
Das Kapitel „Innere Sicherheit, Justiz und Migration“ umreißt zunächst die Notwendigkeit einer umfassenden Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden, Justiz und Nachrichtendienste beider Länder bei der Bekämpfung von „staatlichen und nichtstaatlichen Bedrohungen ihrer inneren Sicherheit einschießlich der kritischen Infrastruktur“. Dabei hebt der Vertrag die Rolle multilateraler Gremien wie Interpol, Eurojust und Europol hervor. Er benennt gemeinsame Interessen „bei der Verhütung und Bekämpfung der grenzüberschreitenden schweren und organisierten Kriminalität“, wie Terrorismus und Terror-Finanzierung, Geldwäsche, Drogenhandel, illegale Finanzströme und Delikte im Zuständigkeitsbereich der Zollbehörden. Damit ist ein Rahmen gesteckt, in den nun auch „Schleusungskriminalität“ und „Grenzsicherheit“ thematisiert werden (zit. n. Art. 9 des deutschen Vertragstextes).
Mit Artikel 11 folgt ein vergleichsweise knapper Passus zur Migrationspolitik. Beide Regierungen nehmen gemeinsam die „Führung in der weltweiten Debatte über Migrations-, Asyl- und Grenzfragen“ in Anspruch. Einen vergleichbaren Führungsanspruch hatte Starmer bereits im April mit einem internationalen Organized Immigration Crime Summit zum Ausdruck gebracht (siehe hier und hier). Allerdings übersetzt der Kensington-Vertrag diesen Anspruch nicht in eine konkrete Agenda, sondern bleibt allgemein: Beide Staaten „werden sich gegenseitig Rechtshilfe leisten und die Verfolgung von Straftätern unterstützen, die an der Schleusung von Migrantinnen und Migranten in die und zwischen den beiden Ländern beteiligt sind.“ Außerdem betonen beide Staaten die Bedeutung von „Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern, um die vorgelagerten Ursachen der irregulären Migration zu bekämpfen“. Explizit genannt werden „humanitäre Bedürfnisse“, Bildung, Beschäftigung und „Resilienz gegenüber Konflikten und dem Klimawandel“. Reguläre und sichere Formen der Migration werden als „wichtig“ anerkannt; ein „festes Bekenntnis zum Völkerrecht und den internationalen Menschenrechtsnormen“ schließt das Migrationskapitel des Vertrags ab.
Der Aktionsplan
Gemeinsam mit dem Vertrag legten beide Regierungen einen Aktionsplan vor: The 17 Projects the UK and Germany will deliver together. Das Dokument formuliert den migrationspolitischen Konsens beider Regierungen deutlicher aus als der Freundschaftsvertrag: Projekt 4 ist überschrieben mit Joint Action Plan on Irregular Migration und schreibt damit offenbar das gleichnamige britisch-deutsche Papier vom 9. Dezember 2024 fort. Es war die erste bilateriale Vereinbarung beider Staaten in Bezug auf die Migration auf der Kanalroute überhaupt (siehe hier).
Der aktuelle Aktionsplan beschränkt sich auf einen vier Punkte umfassenden Ausschnitt der 2024 grob umrissenen Themen:
- An erster Stelle steht einmal mehr die intensivere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Schleusungen. Genannt werden Strafverfolgung, Justiz, Rückführungen und Abschreckung. Beide Staaten sehen sich in einer „regionalen Führungsrolle“.
- Deutschland legt sich auf eine „Klarstellung in der deutschen Gesetzgebung bezüglich der Erleichterung (faciliation) der irregulären Migration in das Vereinigte Königreich“ fest. Dieser Punkt bezieht sich auf eine Regelungslücke im deutschen Strafrecht, die zwar Schleusungen in/aus Deutschland und in andere EU-Staaten unter Strafe stellt, nicht jedoch Schleusungen aus einem nichtdeutschen EU-Staat in einen Drittstaat außerhalb der EU. Durch den Brexit ist am Ärmelkanal jedoch eine solche Konstellation entstanden, die zudem eng mit Deutschland verflochten ist. Die Regierung Starmer drang ab 2024 verstärkt auf eine gesetzliche Neuregelung in Deutschland. Laut dem Aktionsplan soll eine entsprechende Gesetzesvorlage nun „dem Kabinett vorgelegt werden soll, damit sie so bald wie möglich, d.h. in 2025, vom Parlament angenommen werden kann“.
- Eine solche Gesetzesänderung werde ein „noch stärkerer Rahmen“ für die Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden, Politik und Staatsanwaltschaften sein als die bisherigen Regelungen. An dieser Stelle verweist der Aktionsplan auf zwei multilaterale Foren: die Calais Group (Innenminister_innen von Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlande mit Vertreter_innen von EU-Kommission, Europol und Frontex, siehe hier) und den Berlin-Prozesses (diplomatische Initiative zur Annäherung der Westbalkan-Staaten an die EU). In diesem Rahmen sollen „gemeinsame Ansätze für wichtige Routen“ entwickelt werden.
- Der vierte Punkt bekräftigt lediglich den bislang eingeschlagenen Pfad: „Wir müssen uns weiterhin gegenseitig unterstützen, um beim Management unserer Migrationssysteme innovativ zu sein und sichere Grenzen zu schaffen.“
Der Kensington-Vertrag und der Aktionsplan sind in erster Linie eine Aufwertung der bekannten britisch-deutschen Maßnahmen: Aus technischen Vereinbarungen von Ministerien wird ein konsensstiftendes Projekt zweier befreundeter Nationen. Damit aber wird die fatale Verengung von Migrationspolitik auf Schleuserbekämpfung gleichsam geadelt, die praktisch alle bi- und multilateralen Vereinbarungen der vergangenen Jahre durchzieht und die humanitäre wie menschenrechtliche Krise am Ärmalkanal nicht mehr in den Blick nimmt.
Neu ist letztlich nur die Bereitschaft der deutschen Regierung, dem britischen Wunsch nach einer Gesetzesänderung noch in diesem Jahr entgegenzukommen. Faktisch führten deutsche Behörden bereits mehrmals Großrazzien gegen mutmaßliche irakisch-kurdische Schleuser durch und beschlagnahmten u.a. eingelagerte Schlauchboote, Motoren, Rettungswesten und anderes Zubehör. Sie handelten dabei, koordiniert durch Europol, in Amtshilfe für französische und belgische Behörden. Nach einer entsprechenden Gesetzänderung dürften deutsche Behörden wohl unmittelbar gegen Lagerräume und andere Infrastrukturen für Schleusungen über den Ärmelkanal vorgehen, die bisher an sich nicht illegal sind. Je nach Ausgestaltung einer Gesetzesinitiative könnten aber auch Personen oder Firmen unter Druck geraten, die nicht an Schleusungen mitwirken, sondern beispielsweise das am Ärmelkanal eingesetzte Equipment importieren oder verkaufen. In jeden Fall ist damit zu rechnen, dass kommerzielle Schleuser_innen den erhöhten Verfolgungsdruck und die dadurch bedingten Kosten an ihre Kund_innen weitergeben. Die Situation am Ärmelkanal dürfte für die Geflüchteten dann noch brutaler werden, als sie es bereits ist.