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Ein Jahr deutsche Schlüselrolle

Eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung

Vor einem Jahr intensivierten Deutschland und Großbritannien ihre Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Migration auf der Kanalroute. Die Bundesrepublik spiele, so hieß es, nun eine Schlüsselrolle. Was ist daraus geworden? Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Clara Bünger zeigt: Deutschland räumt der Kanalroute keine sehr hohe Priorität ein. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit stehen weiterhin polizeiliche Maßnahmen gegen organisierte Schleusungen, die auf die Bereiche Finanzen und Social Media erweitert werden. Das deutsche Strafrecht wird verschärft werden, um Schleusungen über den Ärmelkanal zu kriminalisieren. In anderen Bereichen, die vor einem Jahr noch priorisiert wurden, scheint nicht viel geschehen zu sein.

Die Kleine Anfrage wurde in Zusammenarbeit mit Calais Border Monitoring vorbereitet und am 27. Oktober 2025 von der Fraktion Die Linke an die Bundesregierung gerichtet (BT-Drucksache 21/2411).

Aus der Antwort vom 7. November (BT-Drucksache 21/2679) wird zunächst einmal deutlich: Die Bekämpfung der Migration in der Ärmelkanal-Region besitzt für die Bundesregierung keine hohe Priorität. Denn diese verneint in allen Punkten die Frage, ob sie eine andere Haltung einnehme als die Ampel-Regierung. Die Kanalroute ist also nicht Gegenstand der sogenannten Migrationswende, sondern eher migrationspolitisches business as usual.

Die Calais Group und der „One in, one out“-Deal

Die Calais Group ist ein 2021 ins Leben gerufenes Gremium der Innenminister_innen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Niederlande und Belgiens, an dem außerdem Frontex und Europol teilnehmen. Das Gremium legte am 10. Dezember 2024 erstmals einen Prioritätenplan vor (siehe hier), der für das Jahr 2025 fünf Handlungsbereiche benennt. Zuvor hatten Großbritannien und Deutschland einen Aktionsplan (UK-Germany Joint Action Plan on Irregular Migration, siehe hier) unterzeichnet, der gleichsam das bilatrale Gegenstück zur multilateralen Calais Group darstellt. Er war das erste bilaterale Vereinbarung beider Staaten in Bezug auf die Kanalroute überhaupt, und genau dies war der Kontext, in dem Großbritannien der Bundesrepublik eine Schlüsselrolle zusprach – einerseits weil ein Teil der Migrant_innen zuvor in Deutschland gelebt hat, andererseits weil Lieferketten für Boote über Deutschland verlaufen und logistische Infrastrukturen von Schleusern bestehen, die der Organisierten Kriminalität zugerechnet werden.

Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, wie es nach dem erwähnten Ministertreffen der Calais Group am 10. Dezember 2025 weiterging. Demnach fand am 30. März 2025 ein „informelles Treffen der Calais-Gruppe auf Innenministerebene ohne feste Tagesordnung statt“, und zwar „am Rande einer Konferenz“. Im Anschluss daran habe „am 31. März 2025 ein informelles Treffen der Calais-Gruppe auf höherer Beamtenebene ebenfalls ohne feste Tagesordnung“ stattgefunden.

Es ist offensichtlich, dass beide Treffen im Kontext des Organized Immigration Crime Summit standen, einem internationalen Gipfel zur Grenzsicherheit und zur Bekämpfung von Schleuserstrukturen, der am 31. März in London begann und aus dem mehrere Vereinbarungen teilnehmender Staaten und Technologieunternehmen resultierten (siehe hier und hier).

Am 16. Juni folgte ein weiteres „informelles Treffen der Calais-Gruppe auf höherer Beamtenebene“. Aus der Tagesordnung dieses Treffens geht hervor, dass es nicht nur um die „Umsetzung des im Dezember letzten Jahres vereinbarten Prioritätenplans“ ging. Denn es wurde auch eine „vorübergehende Pilotvereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich“ präsentiert und „über die politische Unterstützung der Calais-Gruppe und Dänemarks“ für diese Vereinbarung gesprochen. Offensichtlich handelte es sich um das am 29./30. Juli 2025 unterzeichnete Agreement […] on the Prevention of Dangerous Journeys, das nach dem Prinzip One out, one in die Abschiebung einer begrenzten Zahl von Bootsmigrant_innen nach Frankreich ermöglicht und im Gegenzug die Aufnahme der gleichen Zahl anderer Migrant_innen in das Vereinigte Königreich vorsieht (siehe hier). Dass die Staaten der Calais Group im Vorfeld einbezogen wurden, ist neu, aber nicht verwunderlich. Ein interessantes Detail ist jedoch die Einbindung des sozialdemokratisch regierten Dänemark, dessen ausgesprochen repressive Migrationspolitik von der Labour-Regierung zunehmend als Vorbild gesehen wird.

Das „One out, one in“-Abkommen sieht die Möglichkeit vor, weitere Staaten und somit auch Deutschland in einen gemeinsamen Ausschuss einzubinden, der die Durchführung überwacht. Wie die Bundesregierung nun mitteilt, ist Deutschland „nicht in die Umsetzung der bilateralen Vereinbarung“ eingebunden.

Ineinandergreifende Pläne und polizeilicher Fokus

Der Prioritätenplan der Calais Group und der deutsch-britische Joint Action Plan vom Dezember 2024 bilden aus Sicht der Bundesregierung eine Einheit. Beide „dienen der effentiven Bekämpfung der Schleusungskriminalität über den Ärmelkanal und werden teilweise bereits seit mehreren Jahren praktiziert“. Dabei erfolge die operative Umsetzung „im Rahmen der internationalen und bilateralen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit zwischen der Bundespolizei, der National Crime Agency (NCA)“ und weiteren Behörden.

Zu den insgesamt fünf Prioritäten und zum Stand ihrer Umsetzung in antwortet die Bundesregierung:

Priorität „Präventive Kommunikation in Herkunfts- und Transitländern“:

Zu dieser Thematik greift Deutschland auf die Zusammenarbeit mit Staaten entlang der Balkanroute zurück. Die Bundesregierung spricht von einem „wöchentliche[n] Informationsaustausch der jeweiligen Analyseeinheiten aus mehreren Staaten der Westbalkanregion sowie Österreich und Deutschland zur aktuellen Migrationslage“, aus dem dann „eigene bzw. bi- oder multilaterale Einsatzmaßnahmen“ der teilnehmenden Staaten resultieren. Nicht erwähnt sind Herkunftsländer wie Afghanistan, Sudan, Iran, Irak, Eritrea und Vietnam bzw. Transitländer wie Irak oder Türkei, was darauf hindeutet, dass die Bundesrepublik in dieser Hinsicht wenig bis keine Aktivitäten entfaltet hat.

Auf verschiedenen Ebenen fänden, so heißt es weiter, „Präventionskampagnen zur Aufklärung von Gefahren für Leib und Leben bei Schleusungshandlungen“ statt. Ausdrücklich erwähnt die Regierung das Faltblatt „Schleusungen aktiv verhindern!“, das „Unternehmen im Güter-, Bus- und Taxiverkehr sowie Mietwagen- und Carsharing-Firmen“ sensibilisieren soll. Der mit diesem Titel im Internet verfügbare Flyer der Bundespolizei bezieht sich allerdings nicht auf die spezielle Situation der Kanalroute, sondern lediglich auf Schleusungen im Allgemeinen, vor allem solche nach Deutschland und in die EU.

Priorität „Stärkung der Strafverfolgungsbehörden, um die organisierte Schleusungskriminalität zu zerschlagen“:

Diesem Punkt räumt die Bundesregierung sehr viel mehr Raum ein, doch wird deutlich, dass auch hier kaum neue Initiativen begonnen werden. Im Mittelpunt stehen gemeinsame Ermittlungsverfahren britischer, französischer, deutscher, belgischer bzw. niederländischer Behörden gegen mutmaßliche Schleuser. „Aufgrund des erhöhten Koordinierungsbedarfs zwischen den betroffenen Staaten hat EUROPOL zunächst die Operational Task Force (OTF) ‚DUNE‘ eingerichtet, welche im weiteren Verlauf in die ‚OTF WAVE‘ überführt wurde“, so die Bundesregierung. An dieser Task Force nehmen, so die Bundesregierung, aktuell die Staaten der Calais Group mit Ausnahme der Niederlande teil, wobei Frankreich die Leitung innehat und Deutschland durch die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt (BKA) eingebunden ist. Letzteres ist für die Koordinierung auf nationaler Ebene zuständig.

Wir haben an dieser Stelle bereits mehrfach über diese Ermittlungsgruppen berichtet, meist anlässlich von Großrazzien, die sich schwerpunktmäßig gegen Schleusungsstrukturen und Materiallager in der Bundesrepublik richteten (siehe hier, hier und hier). Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass in den Jahren 2024 und 2025 insgesamt sechs „grenzübergreifende Exekutivmaßnahmen zur Bekämpfung von Seewegschleusungen in das Vereinigte Königreich“ stattfanden, bei denen „35 Personen festgenommen sowie 63 Durchsuchungsbeschlüsse durch die Bundespolizei umgesetzt“ wurden.

Der bilaterale Joint Action Plan scheint die Zusammenarbeit mit Großbritannien intensiviert zu haben, doch war er hierfür wohl nicht der einzige Anstoß. Am 1. April 2024 – also noch zu Zeiten der Tory-Regierung und ein halbes Jahr vor Unterzeichnung des Joint Action Plan – habe es im Bundesjustizministerium einen „ganztätigen Erfahrungsaustausch zur Bekämpfung von Schleusungskriminalität“ gegeben: „Ein sehr breiter Teilnehmerkreis mit 35 Vertreterinnen und Vertretern von BMJV [Bundesministerium der Justiz], dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern, der Bundespolizei, Landesjustizministerien, (General)Staatsanwaltschaften der Länder, Eurojust sowie Botschaftsvertretern von Frankreich und dem Vereinigten Königreich sprach über praktische Erfahrungen, Erfolge, Hilfsmittel und Hürden bei der Bekämpfug (präventiv und repressiv) von Schleusungskriminalität“.

Außerdem verweist die Bundesregierung auf die Integration des von der Labour-Regierung neu geschaffenen Border Security Command (siehe hier) und „die verbesserte Übermittlung von Informationen, die neue Ermittlungsansätze der Polizeibehörden ermöglicht.“ Ein weiterer Ausbau der „internationale Zusammenarbeit“ sei geplant.

Priorität „Finanzermittlungen“:

Dieser Punkt zielt auf die Unterbrechung finanzieller Transaktionen im Zusammenhang mit Schleusungen, wobei der Fokus auf das informelle Hawala-Bankwesen gerichtet ist. Hierzu „nimmt die Bundespolizei an den Projekten ‚Hawala Informal Financial System‘ (HAIFINS) der Kommission Organisierte Kriminalität (KOK) sowie der unter britischer Leitung stehenden EMPACT-Maßnahme ‚Hawaladar-Mapping‘ […] teil.“

Beide Projekte fokussieren nicht explizit die Kanalroute. Vielmehr dient das Projekt HAIFINS der Analyse und Aufdeckung von Hawala-Strukturen im Allgemeinen, während die Maßnahme „Hawaladar Mapping“ zwar Teil des Operational Action Plan 2024-2025 Migrant Smuggling des Europol-Programms EMPACT ist, sich aber auf den gesamten europäischen Raum bezieht. Aus dem geleakten EMPACT-Plan und der darin enthaltenen Beschreibung dieser Maßnahme, aber auch aus der Antwort der Bundesregierung, lässt sich ein deutlicher Nachholbedarf der Behörden hinsichtlich dieser unkontrollierten Finanztransfers ablesen.

Priorität „Nutzung Sozialer Medien“:

Großbritannien bemüht sich seit einigen Jahren, gegen die Nutzung von Social Media bei Schleusungen vorzugehen, beispielsweise gegen entsprechende Werbeclips auf TikTok. Wie die Bundesregierung nun mitteilt, gab es am 13. März 2025 eine Besprechung „der Mitglieder der Calais Gruppe zur Rolle der Sozialen Medien bei der Schleusungskriminalität“.

Danach folgten „[w]eitere nationale Besprechungen auf mehreren Ebenen, zum Teil auch mit Beteiligung der Plattformbetreiber“. Deutschland beteilige sich am britischen Projekt „Timeline“, das auf die „Löschung der Nutzerprofile der Schleuser“ hinwirke, und an einer Expertengruppe namens „Digital Migrant Smuggling Experts Informal Network ‚DigiNex-MS‘“. Diese beobachte „illegale Online-Inhalte, um neue Schleusungsrouten, Modi Operandi, Trends und sich abzeichnende Bedrohungen“ zu erkennen.

Priorität „Operative und technische Kooperation“:

Zu diesem letzten Punkt verweist die Bundesregierung lediglich auf die personelle Beteiligung an der „Joint Operation France 2025“ von Frontex, womit die Fortführung der Joint Operation Opal Coast 2024, gemeint sein dürfte, also die Luftüberwachung der auch als Cote d’opale bezeichneten französischen Kanalküste. Deutschland wolle „mit Frontex, EUROPOL und den Nachbarstaaten weitere technische und operative Maßnahmen entwickeln. Geplant ist u.a. eine intensivere gemeinsame Nutzung von Einsatztechnologien, Datenbanken und Lagebildern.“

Ein Zwischenfazit

Die Antwort der Bundesregierung macht deutlich, dass die ineinandergreifenden Agenden der Calais Group und des Joint Action Plan in erster Linie etablierte Strukturen bestätigen und fortschreiben. Kern bleibt die polizeiliche Zusammenarbeit unter dem Dach von Europol, ergänzt durch eine nachholende Fokussierung auf Hawala Banking und Social Media. Zu anderen Prioritäten scheinen kaum oder keine neuen Initiativen ergriffen worden zu sein, jedenfalls verweist Bundesregierung häufig auf Maßnahmen ohne klaren Bezug zur Kanalroute oder auf Planungen für die Zukunft. Die Schlüsselrolle Deutschlands bei der Bekämpfung der Migration auf der Kanalroute erweist sich in dieser Hinsicht eher als bürokratisches Alltagsgeschäft.

Vor diesem Hintergrund ist eine Fortführung des zunächst bis Dezember 2025 befristeten Joint Action Plan erwartbar, aber noch nicht beschlossen. Er werde, so die Bundesregierung, „nach Überprüfung der Ziele ggf. fortgeschrieben.“ Es bleibt also abzuwarten, was im Umfeld des turnusmäßig bevorstehenden Ministertreffens der Calais Group geschehen wird.

Ausweitung des Schleusungs-Straftatbestands, aber kein deutsch-britisches Rücknahmeabkommen

Die Institutionalisierung der britisch-deutschen Migrationspolik schlug sich 2025 noch in einem anderen Dokument nieder: dem Kensington-Vertrag vom 17. Juli 2025, einem Freundschaftsvertrag beider Staaten mit zugehörigem Aktionsplan. Darin ist Migrationspolitik zwar nicht das zentrale Thema, aber gleichwohl präsent (siehe hier).

Auf dieser Basis zeichnet sich nun der sichtbarste Beitrag Deutschlands zur Bekämpfung der Bootspassagen ab, nämlich eine Änderung des Aufenthaltsrechts. Denn bis heute sind Schleusungen aus einem nichtdeutschen EU-Staat in einen Staat außerhalb der EU, wie es Großbritannien durch den Brexit wurde, nach deutschem Recht nicht strafbar. Die Einfuhr, die Lagerung oder der Handel mit Schlauchbooten, Bootszubehör und Rettungswesten, die für Bootspassagen über den Ärmelkanal eingesetzt werden könnten, sind legal, solange dabei keine anderen Delikte begangen werden. Die britische Regierung drängt seit 2024 verstärkt auf eine Schließung dieser Regelungslücke.

Die Kleine Anfrage bestätigt nun britische Medienberichte über eine bevorstehende Gesetzesänderung: „Die Bundesregierung plant die Erweiterung des räumlichen Anwendungsbereichs von § 96 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auf Schleusungen nach Großbritannien und Nordirland“, heißt es in der Antwort. Dadurch solle „der veränderten geopolitischen und migrationspolitischen Lage nach dem Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union angesichts eines signifikanten Anstiegs entsprechender Schleusungsaktivitäten über den Ärmelkanal in den vergangenen Jahren Rechnung getragen werden. Die Erweiterung der Strafbarkeit ist geboten, um eine effektive strafrechtliche Verfolgung von Schleusungen in das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union zu ermöglichen“, so die Bundesregierung. Die Gesetzesänderung erfolge im Rahmen des Kensington-Vertrags und solle „zeitnah umgesetzt werden“.

Britische und deutsche Boulevard-Medien hatten im Spätsommer außerdem über eine britische „Rückführungsvereinbarung mit Deutschand“ berichtet, die „kurz“ vor dem Abschluss stünde. Inspiriert waren die Meldungen offensichtlich durch das britisch-französische „One out, one in“-Abkommen: „Demnach sollen Geflüchtete, die in den kleinen Booten ankommen, zurückgeschickt werden – im Gegenzug würde Großbritannien bereits geprüfte Asylsuchende aufnehmen“, so die Bild-Zeitung unter Berufung auf den Telegraph.

Wir nutzten die Gelegenheit, um bei der Bundesregierung zu erfragen, ob dies zutreffe. Ihre Antwort ist negativ: „Eine Rücknahmevereinbarung wird aktuell zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland nicht verhandelt.“