UKIP und Turning Point UK stellen einen Übergriff auf Geflüchtete in Gravelines online

Nach Provokationen im Juni (siehe hier) haben britische Rechtsextreme nun einen nächtlichen Übergriff auf Geflüchtete im nordfranzösischen Gravelines verübt. Im Rahmen einer aggressiven Kampagne für Massendeportationen stellten sie nun Videoaufnahmen der Tat online. Dahinter steht die bereits bekannte Melange aus britischem Rechtsextremismus und einer bösartigen Spielart der christlichen Rechten, orientiert an der US-amerikanischen MAGA-Bewegung.
Das Video wurde, mit dem Parteilogo von UKIP versehen, am 30. September 2025 zunächst auf den X-Accounts der Partei und ihres Frontmanns Nick Tenconi veröffentlicht. Am 1. Oktober erschien es dann identisch auf dem Account von Turning Point UK. Die Organisation ist der britische Ableger von Turning Point USA, dem mobilisierungsstarken und politisch einflußreichen Projekt des ermordeten Aktivisten und Trump-Vertrauten Charles Kirk.

In beiden Organisationen, Turning Point UK und UKIP, bekleidet Nick Tenconi eine Führungsrolle und agiert als deren aktivistisches Gesicht. Er war es auch, der am 4. Juni einen krawalligen Auftritt an einer Verteilungsstelle für Hilfsgüter in Calais inszenierte und Videos davon veröffentlichte. Dies war der Auftakt einer Spendensammlug zu Gunsten einer „UKIP’s Border Protection Mission“ und der zeitgleichen Rekrutierung von UKIP-Mitgliedern für ein „Border Protection Team“. Beide Initiativen zielten gegen Geflüchtete in Nordfrankreich und waren Teil einer innerbritischen Mobilierung, die sich in erster Linie gegen die demokratische Regierung richtete. Eine Machtergreifung der extremen Rechten wurde als Voraussetzung für die Deportation von Migrant_innen sowie politischen Gegner_innen im Millionenmaßstab propagiert. Tenconi beschrieb das geplante Staatsverbrechen als apokalyptischen Endkampf und stilisierte die Abwehr der Bootspassagen auf französischem Boden als ein notwendiges Vorfeldgefecht. Damit stand er unter Zugzwang, solchen Worten Taten folgen zu lassen.
Die Rückkehr Tenconis an die französische Kanalküste war also zu erwarten. Im Tweet zum nächtlichen Übergriff in Gravelines bezeichnet er seinen höchstens etwa 15köpfigen Begleittrupp als „Stop The Boats team“: „Our Stop The Boats team disrupted and moved on illegal migrants attempting to cross into Britain from Northern France.“ Die Formulierung lag ganz auf der Linie der großspurigen Ankündigungen, in denen der Eindruck vermittelt worden war, man werde anstelle des Staates hoheitliche Aufgaben der Migrationsabwehr ausüben.

Nach Ansicht von Utopia 56 zeigt das nun veröffentlichte Video sehr wahrscheinlich einen Überfall, der sich in der Nacht vom 9. auf den 10. September in Gravelines ereignete. Die Videoszenen „scheinen mit den Übergriffen übereinzustimmen, die uns am 10. September gemeldet worden waren“, erklärt Utopia 56. Die Opfer des Übergriffs „hatten uns erklärt, dass sie von Personen, die als ‚weiße Männer‘ beschrieben wurden, die ‚englisch aussahen‘ und Flaggen trugen, körperlich angegriffen und ihrer Sachen beraubt worden waren (darunter auch Schwimmwesten).“
Ein von uns durchgeführte Analyse des Videos bestätigt unabhängig davon, dass das Video in Gravelines aufgenommen wurde. Aufgrund eines Firmenschildes und anderer Merkmale lässt es sich eindeutig einer bestimmten Straße im Ortsteil Grand-Fort-Philippe zuordnen. Tenconi selbst versah das Video mit keinerlei Angaben über Zeitpunkt und Ort der Entstehung. Er selbst war bereits im Juni dort gewesen und hatte sich knieend vor einem Kruzifix fotografieren lassen, um seinen Aktivismus als religiöse Mission darzustellen.
Sollte das Video tatsächlich in der Nacht zum 10. September aufgenommen worden sein, bedeutet dies, dass es zeitlich ungefähr mit dem Mord an Charles Kirk zusammenfiel. Tenconi reagierte auf das Attentat mit einem äußerst radikalen, ebenfalls bei Nacht aufgenommenen Video, in dem er zu Selbstjustiz aufrief und von einer Kriegserklärung sprach. Es ist denkbar, aber keineswegs sicher, dass auch dieses Video in Nordfrankreich aufgenommen wurde, was bedeuten würde, dass der eigene Übergriff in Gravelines und das Attentat auf Kirk von Tenconi und seinem Trupp als Teil dasselbe Geschehen erlebt wurden, was wiederum eine starke Motivation hin zu weiteren und militanteren Aktionen darstellen könnte. Die hasserfüllte Agitation, die Turning Point UK in den folgenden Tagen und Wochen unter Berufung auf Kirk entfachte, dürfte ab diesem Zeitpunkt jedoch zunächst einmal zeitliche und personelle Ressourcen gebunden haben. Dies würde erklären, warum das Video erst zweieinhalb Wochen nach seiner vermuteten Entstehung publik gemacht wurde.


Doch was ist eigentlich zu sehen? Zu Beginn des 42sekündigen Filmchens tragen elf Personen ein Transparent mit der Parole „ISLAMIST INVADERS NOT WELCOME IN BRITAIN! – UKIP“ durch die Nacht. Die Szene könnte (eventuell separat) aufgenommen worden sein, um den Eindruck einer zu den Geflüchteten ziehenden Demonstration zu erwecken. Mit seiner violetten Farbgebung, seiner Typografie und den beiderseits der Parole aufgedruckten Kreuzen entspricht das Transparent ganz dem Corporate Design der Kampagne für Massendeportationen. Weitere Aktivisten tragen britische und englische Flaggen. Sodann ist zu sehen, wie sich eine Gruppe auf Geflüchtete zubewegt, die am Straßenrand bzw. an einer Bushaltestelle liegen oder kauern. Vorweg geht Tenconi, dessen Gesicht im Gegensatz zu den übrigen Rechtsextremen nicht unkenntlich gemacht ist. Es folgen Bilder der Geflüchteten, die von der Situation sichtlich überrascht sind; sie verhalten sich durchweg defensiv, versuchen der Situation zu entkommen und zeigen Furcht davor, gefilmt zu werden (erst ganz am Ende scheinen einzelne der Betroffenen zu protestieren). Es folgen Szenen, in denen schlafende Menschen mit Taschenlampen im Flashlight-Modus geweckt werden; einigen Schlafenden wird die Decke weggerissen; auch die von Zeug_innen erwähnten Rettungswesten sind zu sehen. Keines der Gesichter der Geflüchteten ist unkenntlich gemacht. Unterlegt ist all dies mit dem Sprechchor „You shall not pass“ und einer gleichlautenden Texteinblendung in Endlosschleife.

Der Veröffentlichung des Übergriffs gingen mehrere weitere Videos voraus und ein weiteres folgte bislang im Nachgang, sodass eine gewisse Dramaturgie erkennbar ist. Gleichzeitig wechseln sich diese Aufnahmen auf den einschlägigen Social media-Kanälen mit solchen von Kundgebungen in britischen Städten mit Tenconi als Frontmann ab. Dies lässt vermuten, dass Tenconi in Nordfrankreich Videos auf Vorrat produziert hat, das er nun in die Kampagne für Massendeportationen einflicht.
Das erste dieser zusätzlichen Videos erschien am 24. September. Es zeigt Tenconi vor einem Graffiti „BORDES KILL“, das er als Inbegriff all dessen brandmarkt, wogegen er seine Follower mobilisiert. Dazu schreibt er: „In Calais hunting for illegal invaders trying to cross into Britain.“ Der in Gravelines verübte Vigilantismus, also das Ausüben von Selbstjustiz anstelle der angeblich unwilligen oder unfähigen Staatsgewalt, war also angekündigt.

Am 25. und 26. September folgten drei weitere Videos, die eine Mitwirkung der französischen Polizei an Schleusungen unterstellen. Das in allen drei Videos sichtbares Kennzeichen eines Zivilfahrzeugs der französischen Polizei ermöglicht es, sie derselben Situation zuzuordnen. Im Mittelpunkt steht ein Beamter der französischen Nationalpolizei beim Eskortieren einer Gruppe Geflüchteter in Calais. Tenconi spricht den Beamten an, ohne seine Identität und Intention offenzulegen, und verwickelt ihn in ein Gespräch. Vehement, aber vergeblich versucht er, den Zielort der Geflüchteten zu erfahren; später lenkt er das Thema erfolglos auf lokale NGOs. Er wirft dem Beamten vor, die angeblich illegalen Menschen nicht festzunehmen, doch dieser erklärt, sie seien frei und es gäbe keine Grundlage für ihre Inhaftierung. Sichtlich genervt, wendet sich der Polizist schließlich ab und fährt davon. Tenconi textet dazu: „The French police run away after I question why they are escorting, not arresting, illegal migrants. They know what they are doing is wrong – look how ashamed this officer is!“
Zu einem der beiden anderen Videos derselben Situation schrieb er: „The French police are complicit in trafficking illegal migrants into Britain.“ Dieselbe Falschbehauptung wiederholte er in einem Tweet vom 3. Oktober, der sich auf eine andere Situation bezieht: „Why are we paying them [gemeint ist die französische Polizei] when they are helping the traffickers?“ Zu sehen ist, wie französische Polizisten Geflüchtete wegschicken, die sich vor einem Wohnhaus befinden.

Französische Polizeibehörden haben bereits wegen sehr viel weniger ehrenrühriger Äußerungen Strafverfahren eingeleitet, wenn sie ihre Integrität verletzt sahen. Aus anderen Beweggründen hat inzwischen Utopia 56 das Video des nächtlichen Überfalls an die Staatsanwaltschaft von Dunkerque, die Präfektur und die Küstengemeinden gemeldet: „Es ist mindestens das fünfte Mal in diesem Jahr, dass wir solche Übergriffe in Nordfrankreich melden“, kommentiert die NGO und weist darauf hin, dass rechtsextreme Gewalt gegen Geflüchtete in der Region medial oft wenig beachtet werde.
Aktuell zeichnet sich ab, dass die informellen Lebensorte und Abfahrtstrände von Geflüchteten in den Fokus einer Radikalisierungsmaschine geraten, die durch den Erfolg des transatlantischen Faschismus, wie in die MAGA-Bewegung, Organisationen wie Turning Point oder das neue Selbstbild als Christian Nationalists oder gar Christian Warriors verkörpern, weiter befeuert wird. Das Video aus Gravelines unterstreicht die Tendenz zu Gewalt und Selbstjustiz, die nach dem Tod Kirks zu einem fast sakralen Rachekult ausgeformt wurde, letztlich aber kalkuliert eskaliert wird. In all diesen Dingen unterscheidet sich die heutige Situation von den sporadischen Aktionen der extremen Rechten am migrationspolitischen Symbolort Calais vor der Zerstörung der amerikanischen Demokratie.