
Während des Jahres 2025 starben im Zusammenhang mit der undokumentierten Migration aus der EU nach Großbritannien mindestens 40 Menschen – in aller Regel Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten in riskanten und prekären Situationen. Die Zahl der zivilgesellschaftlich dokumentierten Todesfälle seit 1999 stieg auf 524. Kaum einer dieser Menschen hätte in einer anderen migrationspolitischen Konstellation sterben müssen. Um auf eine Veränderung hinzuwirken, so unwahrscheinlich diese auch ist, erscheint es uns elementar, diese tödlichen Auswirkungen so umfassend wie möglich zu dokumentieren. Neben einer Analyse der Entwicklung veröffentlichen wir eine Chronologie aller dokumentierten Todesfälle dieses Jahres. Wir verstehen dies zugleich als eine Geste der Trauer und des Respekts gegenüber den Opfern dieser Grenze.
Wieviele starben in welchen Situationen?
Während des zu Ende gehenden Jahres starben weniger als halb so viele Menschen als 2024 – dem fatalsten Jahr überhaupt. Damals waren 89 Todesfälle dokumentiert worden (siehe hier). Auch in anderen Jahren wie 2019 oder 2021 verloren mehr Menschen ihr Leben, allerdings aufgrund einzelner Katastrophen mit einer großen Zahl von Todesopfern. Zu solchen Katastrophen kam es 2025 nicht. Einmal mehr erweist sich die Situation an der Kanalküste aus strukturellen Gründen als tödlich.
Anders als in den Vorjahren, blieb die Häufung von Todesfällen in den Herbstmonaten Oktober bis Dezember aus, was mit einer begrenzten Zahl an Bootspassagen einschließlich einer vierwöchigen witterungsbedingten Unterbrechung zu tun haben dürfte. Damit endete eine Serie monatlicher und phasenweise wöchentlicher Todesmeldungen, die im Spätsommer 2023 eingesetzt hatte. Allerdings ist damit zu rechnen, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein wird.
Im Jahr 2025 verfestigten sich Entwicklungen, die sich bereits in den Vorjahren abzeichneten. Hierzu gehört, dass in allen drei Teilregionen des nordfranzösischen Migrationsraums ähnlich viele Menschen starben. Die meisten Todesfälle ereigneten sich nicht mehr, wie über viele Jahre hinweg, im Raum Calais, sondern im Raum Dunkerque mit den großen Camps von Loon-Plage/Grande-Synthe und dem vielgenutzten Ausgangspunkt der Überfahrten bei Gravelines. Auf diese Region konzentrierten sich zuletzt auch die Bootspassagen. 35% der Todesfälle ereigneten sich dort; in den Regionen um Calais und Boulogne-sur-Mer waren es jeweils 28% bzw. 30%.
Die meisten Todesfälle, nämlich 25 (63%), ereigneten sich im Zusammenang mit Bootspassagen; in der Region Boulogne-sur-Mer waren es sogar sämtliche Todesfälle. Anders als im Vorjahr, als es mehrere schwere Havarien mit zehn oder mehr Toten gab und die vermutlich zweitschwerste Havarie am 23. Oktober in ihrem wahren Ausmaß zunächst unentdeckt blieb, kam es 2025 nicht zu Bootsunglücken dieses Ausmaßes. Vielmehr starben die meisten Menschen entweder im Gedränge und Chaos beim Ablegen/Besteigen eines Bootes, oder sie starben aufgrund der Überfüllung ihres Bootes auf hoher See. Fast alle Todesfälle im vermuteten Zusammenhang mit Bootspassagen ereigneten sich im französischen Gewässer, häufig in Strandnähe und in zwei Fällen in einer Binnenwasserstraße bzw. einem Hafenbecken. Nur in zwei Fällen wurde in britischen Gewässern eine verstorbene Person geborgen.
Aber nicht alle Todesfälle ereigneten sich bei Bootspassagen. Vier Menschen starben vermutlich bei Versuchen, auf Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen. Mindestens zwei Geflüchtete nahmen sich das Leben. Es ist unklar, welchen Anteil die inhumanen Lebensbedingungen an den Todesfällen hatten, allerdings lässt sich ein solcher Einfluss in einigen Fällen vermuten, etwa wenn ein Mann während des Winters an Unterkühlung starb oder eine Frau mit gesundheitlichen Problemen tot in ihrem Zelt entdeckt wurde.
Fünf Menschen starben durch Gewalt. Einer von ihnen wurde bei einer gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen Geflüchteten in Calais getötet. Vier Menschen erlitten im Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque tödliche Schusserletzungen oder wurden dort erschossen aufgefunden. Bei zweien von ihnen handelte es einem Medienbericht aus ihrer irakisch-kurdischen Heimat zufolge um Männer, die nach Frankreich gekommen waren, um dort für Schleuser arbeiteten.
Insgesamt kamen 58% der Gestorbenen aus afrikanischen Ländern, und zwar vor allem aus Kriegs-/Krisenstaaten bzw. Diktaturen: acht der Toten (und damit die meisten) kamen aus dem Sudan, fünf aus Somalia, fünf aus Äthiopien, drei aus Eritrea und je einer aus Ägypten und Guinea. Die übrigen stammten aus dem Irak, der Türkei, Afghanistan, Syrien, Jemen, Kuwait und Vietnam. Vier Fünftel der Todesopfer waren Männer und ein Fünftel Frauen. Das jüngste Todesopfer war ein achtjähriger Junge, der gemeinsam mit seiner Mutter starb. Mindestens ein weiteres Todesopfer war minderjährig.
Einige dieser Menschen wurden nach ihrem Tod in ihre Heimat überführt und dort beigesetzt, was ohne die solidarische Hilfe der Zivilgesellschaft oft nicht möglich wäre. Die Gräber der anderen befinden sich auf verschiedenen Friedhöfen der Küstenorte und in Lille. Immer dann, wenn ein weiterer Tod bekannt wurde, versammelten sich Menschen in Calais und an anderen Orten zu einem Gedenken.

Chronologie
Hinter jeder Zahl stehen Leben. Und hinter jedem Leben steht ein fundamentales Recht: das Recht auf Hoffnung.
Osmose 62 im Dezember 2025
7. Januar: In Grande-Synthe bei Dunkerque wird der 23jährige Saleh Hersh Shakhawan aus dem kurdischen Teil des Irak am Rand der Autobahn A16 tot aufgefunden. Die Umstände deuten auf Unterkühlung hin (siehe hier).
11. Januar: Bei Sangatte bei Calais wird in einem Schlauchboot die Leiche des etwa 20jährigen Suleiman Alhussein Abu Aeday aus Syrien gefunden. Es wurde vermutlich im Gedränge eines Ablegemanövers erdrückt (siehe hier).
22. Januar: An einem Strand bei Sangatte bei Calais wird die Leiche des 24jährigen Abdul Raheem Qasem aus dem Jemen gefunden. Es wird vermutet, dass er bei einer Bootspassage ums Leben kam (siehe hier).
4. Februar: Am Autobahnkreuz von Calais wird die Leiche des 22jährigen Malik Hassan Idriss aus dem Suden gefunden. Die Verletzungen deuten darauf hin, dass er von einem Lastwagen stürzte oder von einem Fahrzeug erfasst wurde (siehe hier).
9. Februar: Am Strand von Berck südlich von Boulogne-sur-Mer werden die Leichen von Sayed Tamim Sediqi (Alter unbekannt) und Akbar Khaksar (22 Jahre) aus Afghanistan gefunden. Die Präfektur vermutet, dass sie beim Besteigen eines Taxiboots starben (siehe hier).
15. Februar: Bei der Havarie eines Schlauchboots vor Calais verliert der 27jährige Yibrah Berihu Kidanu aus Äthiopien das Bewusstsein und wird nach seiner Bergung im Krankenhaus für tot erklärt (siehe hier).
8. März: Bei einer Bootspassage erleidet der 64jährige Jabr Al Ftah aus Kuwait (nach anderen: Irak) eine Herz-Kreislauf-Stillstand; er wird von den übrigen Passagier_innen bei Calais an Land gebracht. Nach einem anderen Vorfall wird ein Jugendlicher vermisst (siehe hier).
19. März: Bei Equihen-Plage südlich von Boulogne-sur-Mer erleidet der 26jährige Adam Abdiaziz Abdulkadir aus dem Sudan einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Nach Angaben einer lokalen NGO hatte er versucht, in ein Schlauchboot zu steigen (siehe hier).
20. März: Bei der Rettung von Bootspassagier_innen bei Gravelines nahe Dunkerque wird der türkische Staatsbürger Bilal Yildirim leblos geborgen; die Rettungskräfte stellen seinen Tod fest (siehe hier).
21. März: In den Châtelet-Dünen bei Tardinghen westlich von Calais wird der 38jährige Abbas Sertus aus Äthiopien erhängt aufgefunden. Die Umstände deuten auf Suizid hin (siehe hier).
24. März: Am Strand von Marck bei Calais wird die Leiche der etwa 30jährigen Awet Hagos Haile aus Eritrea aufgefunden. Die Umstände lassen vermuten, dass sie bei einer Bootspassage starb (siehe hier).
11. April: In ihrem Zelt im Jungle von Loon-Plage nahe Dunkerque wird die 57jährige Sahra Amin aus Somalia tot aufgefunden. Die Behörden vermuten, dass sie gesundheitliche Probleme hatte (siehe hier).
18. April: Ein unbekannter Mann stirbt während einer Bootsüberfahrt. Der leblose Körper wird vor Dover von der britischen Border Force geborgen (siehe hier).
11. Mai: Bei der Havarie eines Schlauchboots vor Boulogne-sur-Mer stirbt der 25jährige Musa Yasin Husen aus Äthiopien (siehe hier).
13. Mai: Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais wird der 39jährige Ahmed Hummed Nafi aus Eritrea von einem Lastwagen erfasst und stirbt. Er verfügt über einen französischen Schutzstatus und leidet unter psychischen Problemen (siehe hier).
19. Mai: Bei der Havarie eines Schlauchboots vor Boulogne-sur-Mer ertrinkt der 31jährige Natnael Tesfalem aus Eritrea. Ein weiterer Passagier wird vermisst (siehe hier).
21. Mai: Während einer Panik an Bord eines Schlauchboots, das bei Gravelines aufgebrochen war, werden die 40jährige Kazaq Ezra aus der Türkei und ihr achtjähriger Sohn Agdad Hilmi erdrückt (siehe hier).
14. Juni: In der Nähe des Jungle von Loon-Plage bei Dunkerque wird Ibrahim Abdalla aus dem Sudan erschossen; fünf weitere Menschen, darunter ein Kind, erleiden Schussverletzungen (siehe hier).
15. Juni: Im Jungle von Loon-Plage erleiden Karzan Abdullah und Mohammed Najm, beide aus dem kurdischen Teil des Irak, tödliche Schussverletzungen. Aus Medienberichten geht hervor, dass beide für Schleuser tätig waren und dass es sich möglicherweise um einen unbeabsichtigten Schuss und einen anschließenden Suizid handelt (siehe hier und hier).
15. Juli: Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais stirbt der 23jährige Saeed Ibrahim Ali Saadon aus dem Sudan beim Versuch, auf den Anhänger eines Lastwagens zu klettern (siehe hier).
26. Juli: An Bord eines Schlauchboot, dessen Passagier_innen die Überfahrt südlich von Boulogne-sur-Mer aufgegeben hatten, wird die Leiche des 38jährigen Hussein Ali Mohamed aus Somalia gefunden; er starb an einem Herz-Kreislauf-Stillstand (siehe hier).
27. Juli: Im Jungle von Loon-Plage wird der 32jährige Kurde Bjar Hassan erschossen (siehe hier).
12. August: Vor dem Strand von Malo-les-Bains in Dunkerque ertrinkt Ayesha aus Somalia eim Versuch, ein Schlauchboot zu besteigen (siehe hier).
15. August: In einem Kanal in der Innenstadt von Calais wird die Leiche des 41jährigen Aldrop aus dem Sudan gefunden. Er soll mindestens sieben Jahre lang in dem Gebiet gelebt haben (siehe hier).
17. August: An einer versteckten Stelle des Jungle von Loon-Plage wird ein Mann aus Äthiopien erhängt aufgefunden. Die Umstände deuten auf Suizid hin (siehe hier).
29. August: Bei Auseinandersetzungen zwischen Geflüchteten wird in Calais ein Mann aus Darfur (Sudan) getötet; seine Leiche weist zahlreiche Verletzungen an Kopf und Brust auf (siehe hier).
9. September: Eine Frau stirbt an Bord eines Schlauchboots während der Überfahrt; ihr lebloser Körper wird von britischen Rettungskräften etwa 16 Kilometer vor Dover geborgen (siehe hier).
10. September: An Bord eines Schlauchboots werden bei einem Rettungseinsatz die Leichen zweier Männer aus Vietnam und einer Frau aus Ägypten entdeckt. Sie wurden vermutlich beim Einsteigen in das Boot erdrückt. Mindestens eines der Opfer ist minderjährig. Bei einer anderen Überfahrt kommt es am gleichen Tag zu einer Havarie, nach der drei Menschen vermisst werden (siehe hier).
17. September: der 21jährige Mamadou Garanké Diallo aus Guinea wird tot an der Autobahn in der Nähe des Jungle von Loon-Plage gefunden. Die Umstände deuten auf einen Unfall hin (siehe hier).
19. September: In einem Hafenbecken von Dunkerque wird die Leiche eines jungen Mannes, vermtlich aus dem Sudan, entdeckt. Es wird vermutet, dass er beim Versuch ertrank, nach Großbritannien zu gelangen (siehe hier).
27. September: Am Strand von Neufchâtel-Hardelot südlich von Boulogne-sur-Mer werden die Leichen zweier Frauen aus Somalia gefunden. Sie starben vermutlich beim gescheiterten Ablegen eines Schlauchboots (siehe hier).
27. September: Im kanalisierten Fluss Aa wird in Gravelines die Leiche eines Mannes aus Äthiopien gefunden (siehe hier).
28. September: Am Strand von Écault südlich von Boulogne-sur-Mer wird die Leiche von Mohamed Mustafa Hamed aus dem Sudan entdeckt. Er starb vermutlich bei einer versuchten Bootsüberfahrt (siehe hier).
25. November: Am Strand zwischen Leffrinckoucke und Malo-les-Bains nahe Dunkerque wird die Leiche eines Mannes entdeckt, der vermutlich bei einer Bootspassage starb. (siehe hier).
Weitere Todesfälle und das Dunkelfeld
In oder in Bezug auf die Ärmelkanalregion ereigneten sich weitere Todesfälle, die nach unserer Einschätzung nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Migration auf der Kanalroute stehen und die wir deshalb außerhalb unserer Chronologie nennen:
Am 8. Februar starb der irakische Kurde Karzan Ghazi Kareem bei einer Schießerei zwischen einer Spezialeinheit der Polizei und mutmaßlichen Schleusern auf einem Autobahnrastplatz in Selongey bei Dijon. Er befand sich in einem Auto, das im Rahmen der Ermittlungen verfolgt wurde.
Am 28. April starb der Ägypter Walid Gomaa im englischen Kanalhafen Southampton, wo er versucht hatte, auf ein Schiff nach Kanada zu gelangen. Sein Asylverfahren in Großbritannien war gescheitert, so BBC.
Generell ist unklar, ob alle tödlichen Ereignisse bekannt wurden. Denn dies setzt voraus, dass Rettungsdienste, Polizei, Justiz, Medien oder zivilgesellschaftliche Organisationen in irgendeiner Form informiert werden und ihrerseits die Öffentlichkeit informieren, aber auch, dass ein Bezug zum Migrationsgeschehen am Ärmelkanal erkennbar ist oder wahrscheinlich erscheint. Auch können Todesfälle, die sich in größerer Entfernung zum Ärmelkanal ereignen, leicht übersehen werden.
Mehrfach wurde über Vermisste auf See berichtet. Hinweise auf Vermisste lösen in aller Regel Suchaktionen der Rettungskräfte aus, allerdings ist die Überlebenswahrscheinlichkeit wegen der niedrigen Wassertemperaturen gering. Eine systematische Erfassung dieser Vermisstenfälle gibt es nicht. Ob und wieviele vermisste Personen später unidentifzierbar aufgefunden wurden, muss offen bleiben.
Es ist möglich, dass eine unbekannte Zahl vermisster Personen nie gefunden wird, etwa wenn sie durch die Strömung in die Nordsee gelangen. In der Vergangenheit wurden in den Niederlanden und selbst in Norwegen die Überreste von Geflüchteten angespült, die im Ärmelkanal gestorben waren (siehe hier).
Quellen
Da mehrere Akteure seit Langem die Todesfälle in der Region dokumentieren, können wir die Entwicklungen seit 1999 gut nachvollziehen. Eine herausragende Arbeit leistet der freie Journalist Maël Galisson mit einem interaktiven Gedenkportal. Wir haben seine Daten mit denen zivilgesellschaftlicher Initiativen (Timeline Deaths at border France/Belgium/UK und Calais Migrant Solidarity), dem Missing Migrants Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und eigenen Berichten abgeglichen. In manchen Fällen weichen die Angaben aufgrund neuerer Informationen (etwa zur Identität und Nationalität einer Person) von den Berichten ab, die unmittelbar nach den Todesfällen von Medien, Behörden oder NGOs veröffentlicht wurden und auch in unsere laufende Berichterstattung einflossen.