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Niederlande: Ferne Echos vom Kanal (I)

Strandgutsammler Maarten Brugge und das auf Texel angeschwemmte Boot. (Foto: Tobias Müller)

Bootsflüchtlinge auf dem Weg nach England sind nicht unbedingt das, was Menschen einfällt, wenn sie an die niederländische Küste denken. Dabei finden sich an und hinter den bei Tourist*innen beliebten Stränden immer wieder Hinweise und Spuren, und selbst Überfahrten werden von hier gestartet: Teil I eines Blicks auf einen wenig beachteten Migrationsschauplatz.

Ein Morgen Mitte November am Noorderstrand in Scheveningen, einem der Strandviertel Den Haags: Die Wellen der Nordsee spülen ein schwarzes Schlauchboot an den Strand. Passagier*innen sind nicht darauf, leer ist es aber auch nicht: ein Außenborder, Kleidung, Schuhe, Pumpen, Bargeld, ein GPS-Tracker liegen darin. Das Boot ist schwarz und schmal, auf eine der seitlichen Luftkammern ist eine grüne Markierung gesprüht. Die niederländische Polizei beschlagnahmt alles. Eine Hubschrauber-Suche nach möglichen Insass*innen bringt nichts.

Dass es sich um ein Boot handelt, das Flüchtlinge von der kontinentalen, sehr wahrscheinlich nordfranzösischen, Küste hinüber an die englische bringen sollte, darauf weisen allein schon die Objekte an Bord hin. Es reiht sich aber auch ein in eine Serie von Bootsfunden an der niederländischen Küste. Eines etwa, rot und ein ähnliches Format, erreichte ein Jahr zuvor, im November 2022, die Insel Texel. Kurz vor dem letzten Jahreswechsel wurde eines am Strand von Petten gefunden, unweit der Stadt Alkmaar, mit einer Rettungsweste an Bord.

Im Oktober 2022 waren es mindestens fünf: Eines trieb an den Strand des Badeorts Oostkapelle in der südwestlichen Provinz Zeeland, wobei regionale Medien am selben Tag noch von drei weiteren berichteten. In den folgenden Tagen wurde erst ein weiteres bei einem Windenergiepark vor der zeeländischen Küste geborgen, es folgten Bootsfunde in Egmont aan Zee, Noordwijk und Groote Keeten. Betroffen war also mehr oder weniger die gesamte Küste.

„Noch nie waren es so viele“, zitierte der Regionalsender NH Nieuws die Küstenwache. Wer sich für die Materie interessierte, kam schnell dahinter, dass die „geheimnisvollen Codes“, wie der seeländische Rundfunk die Markierungen auf den Luftkammern genannt hatte, nichts anderes waren als Markierungen der französischen oder britischen Küstenwachen, die die Passagiere von Bord geholt, die Boote aber aus Platzgründen dem Meer überlassen hatten. Botschaft: die Insassen sind in Sicherheit, eine Suchaktion ist nicht nötig.

Vertieft hat sich in all diese Details an der fast 400 Kilometer langen niederländischen Küste niemand mehr als Maaike Polder. Die NH Nieuws-Journalistin aus Alkmaar berichtete vor gut einem Jahr über das grüne Schlauchboot, das 20 Fahrrad-Minuten von ihrer Haustür entfernt in Egmond aan Zee gefunden wurde, und auf dem allerlei persönliche Besitztümer hinterlassen waren. Sie folgte der Spur dieser Gegenstände in die Jungles und an die Strände Nordfrankreichs, nahm die Fähre nach England und sprach mit Geflüchteten, die die Überfahrt überlebt haben. Über ihre Recherchen machte sie einen sechsteiligen Podcast.

Maarten Brugge mit einem der Autoschläuche in der Sonderausstellung des Museums Flora auf Texel. Die Schuhe wurden ebenfalls angeschwemmt und sind Teil der Ausstellung. Foto: (Tobias Müller)

Die Gegenstände sind nun im Strandgutsammler-Museum Flora auf Texel in einer Sonderausstellung zu sehen, die schlicht „Sachen von Migranten“ betitelt ist. Entspannte Touristen und ihre aufgedrehten Kinder laufen dort nun nicht nur an Bojen, Treibholz und allerlei interessanten Fundstücken vorbei, sondern auch an Fotos, Kleidungsstücken und Rettungswesten von Bootflüchtlingen. Was durchaus zur Tatsache passt, dass sich an Europas Stränden die Wege von Urlauberinnen und jenen, die auf See ihr Leben riskieren, kreuzen. Nur geschieht das eben nicht nur am Mittelmeer, sondern auch die Nordsee spielt eine Rolle.

Gerade auf der Insel Texel weiß man das, seit dort im Oktober 2014 die Leiche eines jungen Mannes angetrieben wurde, bekleidet mit einem Neopren-Anzug, der für die Jahreszeit auffallend dünn war. Untersuchungen ergaben, dass er bei einem Decathlon-Markt am Ärmelkanal gekauft worden war. Es handelte sich um einen 22jährigen syrischen Studenten namens Mouaz al-Balkhi. Ein anderer ertrunkener Syrer, ebenfalls im Neoprenanzug, wurde an der norwegischen Südküste gefunden. Über die beiden „wetsuitmen“ schrieb der norwegische Journalist Anders Fjellberg eine eindrückliche Reportage.

Mouaz al-Balkhi wurde auf dem Inselfriedhof von Texel begraben. Seine Schwester widersprach damals der in niederländischen Medien verbreiteten Version, er habe nach England schwimmen wollen. Vielmehr sei der Plan gewesen, vom Meer aus an Bord einer Fähre zu gelangen. Der Strandgutsammler Maarten Brugge, ein Hotelier auf Texel, findet seit 2018 immer wieder Gegenstände, die von Migrantenboten stammen und auf der Insel angeschwemmt werden. Rucksäcke und Kleidung, Paddel und Rettungswesten, selbst die Bodenplatte eines Schlauchboots. Woher all das kam, wurde ihm klar, als mehr und mehr Auto-Schläuche angeschwemmt wurden. „Ich sah irgendwo ein Foto von Bootsmigranten, die statt einer Rettungsweste solche Dinger um den Körper trugen.“

Das Grab von Mouaz al-Balkhi auf Texel, Sommer 2015. (Foto: Tobias Müller)

In Taschen und Rucksäcken fand er auch zusammengefaltete Merkblätter, auf denen zwischen einer französischen und einer britischen Fahne gewarnt wird: „Die Überfahrt nach Großbritannien ist sehr gefährlich. Diese Information kann ihr Leben retten.“ Es folgen allerlei Tipps für die, die es trotzdem versuchen, von Notfallnummern der Küstenwache bis hin zur Warnung vor den Wellen großer Schiffe. Hilfsorganisationen in Calais und Dunkerque verteilen diese Zettel. Strandgutsammler, erklärt Brugge, dessen Vater und Großvater schon dem Fach angehörten, gehen in aller Frühe bei Westwind auf die Suche. Dabei spiegelt das, was sie finden, zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen wider. Dass dies nun auch für die small boats im Ärmelkanal gilt, erklärt er so: „Gegenstände, die bei einer Überfahrt über Bord gehen, werden im Herbst bei stürmischem Wetter mit der Strömung nach Nordosten, in Richtung Texel getrieben.“

Früh unterwegs ist der Strandgutsammler auch am Morgen des 6. Oktober. In der Dämmerung sieht er etwas dunkles, gekrümmtes im Sand liegen. „Ein toter Seehund“, denkt er sich, doch als er davor steht, sieht er, dass es eine schwarze Jogginghose ist. Auch eine Unterhose steckt noch darin. Aus einem der Hosenbeine ragt der weiße Knochen eines Unterschenkels. Später wird ein paar Kilometer nördlich ein Turnschuh gefunden, in dem neben einer Socke auch ein Fußknochen steckt. Inzwischen hat die Polizei bekannt gemacht, dass beide Überreste nicht von der gleichen Person stammen.

Die Redaktion von NH Nieuws schreibt im November 2023: „Es schien immer ein Problem, das sich weit weg von Nord-Holland abspielt, aber die Welt-Problematik wird nun auch am Strand von Texel angeschwemmt.“ In besagtem Artikel wird auch ein Sprecher des Roten Kreuzes zitiert, der mehrfach betont, dass die Leichen von Havarie-Opfern meist im Meer verschwinden.