Die heftige Frostperiode, über die wir zuletzt berichteten, ist vorüber. Die Behörden haben den vorübergehend aktivierten plan Grand froid (Großer Frost-Plan) – ein staatliches Programm zur Bereitstellung von Notunterkünften bei Frost – wieder außer Kraft gesetzt. Während dieser kritischen Phase besuchte der Calaiser Blog Passeurs d’hospitalités zwei lokale Initiativen, die Geflüchtete jenseits der behördlichen Maßnahmen unterstützen. Beide Initiativen haben einen kirchlichen Hintergrund und stehen medial eher im Schatten größerer und säkularer Akteure wie Auberge des migrants, Utopia 56 oder Care4Calais. Wir veröffentlichen im Folgenden eine Übersetzung des am 14. Februar publizierten Berichts, der exemplarisch die Möchlichkeit einer menschenwürdigen Beherbergung auf zivilgesellschaftlicher Basis aufzeigt:
Mitten im Winter beherbergen in Calais zwei Initiativen besonders schutzbedürftige Isolierte
Trotz eisiger Temperaturen halten sich über tausend Exilierte in der Umgebung von Calais auf – ohne dauerhafte Unterbringungslösung. Zwei Initiativen bringen mehrere Dutzend Personen in Obdach.
Im Hof des Hauses des katholischen Dekanats, gegenüber der Kirche Notre-Dame, spielen vier Jugendliche Fußball, obwohl es gerade angefangen hat zu schneien. Es ist später Nachmittag und an diesem Tag ist es kalt. Diese jungen Exilierten werden nicht draußen übernachten, sondern in der von der Calaiser Diözese zusammen mit dem Secours Catholique (französischer Caritasverband) eingerichteten Nachtunterkunft.
„Diesen Ort nennen wir ‚die Krippe‘, weil wir ihn erstmals letztes Jahr am Weihnachtstag eröffnet haben“, erklärt Philippe, Geistlicher des Wohlfahrtsverbandes. „Damals hatten wir die Unterbringung in einer Calaiser Kirche organisiert. Dort wurden die Schwächsten bis Mitte März untergebracht, als der erste komplette Lockdown (confinement) eingeführt wurde.“ Inzwischen wurde die Kirche von der Stadtverwaltung aufgekauft und ‚die Krippe‘ woanders wieder eröffnet. Diese Erholungsstätte, die ca. 15 Personen beherbergt, dürfte bis zum 5. April geöffnet bleiben.
„Dies beweist, dass Unterbringungslösungen denkbar sind, die in das Stadtbild passen.“
Philippe, Geistlicher in Calais
Beim Eintreten werden die Schuhe ausgezogen. An der Küchenwand hängen die ‚Erklärung der Rechte obdachloser Menschen‘ sowie eine riesige Weltkarte – hinter einem großen Tisch voller Lebensmittel, darunter ein Stapel Dreikönigskuchen. Kuchenstücke werden später verteilt und wer eine ‚fève‘ (Porzellan-Figürchen) in seinem Stück findet, wird zum König bzw. zur Königin des Tages gekürt. In einer Ecke spielen zwei junge Männer Schach.
„Wir legen Wert darauf, den familiären Charakter dieser Einrichtung zu bewahren“, erläutert Philippe, „auch wenn wir schon mal andere Menschen aufnehmen, die sich in einer Notlage befinden.“ In der Nacht davor hat hier eine kleine Gruppe von Exilierten Zuflucht gefunden, die Schiffbruch bei einem Kanalüberquerungsversuch erlitten haben.
„Alles läuft sehr gut, wir haben keine Probleme mit der Nachbarschaft. Dies beweist, dass in Städten wie Calais Unterbringungslösungen denkbar sind, die in das Stadtbild passen. Solche kleinen Einrichtungen können nicht zu einem Flüchtlingsstrom führen und die Zahl der beherbergten Menschen ist so klein, dass Schleuser hier keinen Platz finden können. Es könnte mehrere solche Einrichtungen geben.“
Zur Verfügung stehen diese Einrichtungen in erster Linie unbegleiteten Minderjährigen, denjenigen, deren Minderjährigkeit nicht anerkannt wurde, sowie gerade aus dem Krankenhaus entlassenen Menschen. Manchmal trifft man dort auch Familien. Auch wenn die Ruhepause, die sie bieten, wertvoll ist, bleibt diese dennoch ungewiss: Letzte Woche hat ein von der Stadtverwaltung beauftragter Sicherheitsausschuss den Wunsch geäußert, die Einrichtung zu begehen. Diese Besorgnis hinsichtlich Sicherheit stimmt einen nachdenklich, wenn man bedenkt, dass sonst die dort beherbergten Exilierten keine Alternative hätten, als mitten im Winter im Freien zu übernachten.
Schutz und Sicherheit
Auf einem Feldbett sitzend, lacht eine kleine Gruppe sudanesischer Minderjähriger beim Blick auf ein Handy-Display. M. ist 16 Jahre alt, seit drei Wochen wohnt er hier. Davor hat er zweieinhalb Monate unter der Bahnhofsbrücke verbracht.
„Draußen war es sehr kalt“, sagt er. „Zum Wärmen hatte ich lediglich einen Schlafsack und als Unterlage einige Pappkartonstücke. Da wir nachts versuchen, nach England zu gelangen, kommen wir manchmal um 1, 2 oder 3 Uhr zurück. Aber die Polizei weckt uns gegen 5 oder 6 Uhr morgens und wir müssen unsere Sachen packen und unsere Zelte nach Möglichkeit woanders aufstellen; das lässt uns nicht viel Zeit zum Schlafen. Hier kann ich wieder auftanken.“
Ein paar Kilometer weiter, in einer ruhigen Straße gelegen, nimmt das Maria Skobtsova-Haus Frauen und Familien auf. „Es wurde 2016 von Bruder Johannes [1] nach dem Vorbild der Houses of Hospitality der Catholic-Worker-Bewegung in New York gegründet“, erklärt Joëlle, die seit mehreren Jahren dort als Freiwillige tätig ist.
An einer Wand im Wohnzimmer hängt inmitten von Kinderzeichnungen ein ins Arabische und Englische übersetztes ‚Vater Unser‘. Auch hier wird Geselligkeit großgeschrieben. „Dieses Haus ist deren Haus“, unterstreicht Joëlle. „Es kommen Freiwillige vorbei, die manchmal Sprachunterricht geben. Abends wird zusammen gegessen.“
„Hier fühlen wir uns sicher“, erklärt eine junge Frau. „Für eine Frau ist es manchmal schwierig, im Jungle zu übernachten.“ „Es ist viel besser als im Freien zu leben“, fügt ein zukünftiger Familienvater hinzu, dessen schwangere Frau bald entbinden wird. „Für sie wäre es zurzeit außerordentlich schwer, draußen zu schlafen.“
Auch wenn der Große-Kälte-Plan Anfang der Woche [gemeint ist Beginn der Frostperiode] aktiviert wurde, ist zurzeit nicht die Rede davon, dass er nach kommendem Montag verlängert würde. Obwohl im Rahmen dieses Plans 300 Betten verfügbar sind – lediglich über Nacht –, schlafen viele Exilierte, darunter Minderjährige, immer noch im Freien. Indessen gehen die Räumungen weiter: Die Zelte, die einen notdürftigen Schutz gegen Kälte und Witterung bieten, werden bei der Gelegenheit konfisziert und manchmal sogar zerstört.
[1] Johannes Maertens ist ein altkatholischer Mönch und Aktivist, der langjährig in Calais tätig war.
Übersetzung: Nicole Guyau
Update, 5. März 2021:
Bereits Ende Februar wurde die „Krippe“ durch die Calaiser Bürgermeisterin geschlossen. Lokale Aktivist_innen sorgten für die weitere Unterbringung der Betroffenen. Der Bischof von Arras, zu dessem Amtsbereich auch Calais zählt, und die Präsidentin der französischen Caritas nahmen die Schließung zum Anlass, Calais zu besuchen und einen grundlegenden Wandel der Poltik gegenüber den Exilierten zu verlangen. Ein ausführlicher Bericht findet sich hier.