In diesem Frühjahr übte die britische Regierung Druck auf eine (tatsächliche) Hilfsorganisation aus, um zu verhindern, dass in den Camps von Grande-Synthe und Calais Flugblätter mit behördenunabhängigen Informationen über die Risiken einer Überquerung des Ärmelkanals in Booten oder versteckt in Lastwagen verteilt werden. Wir berichteten damals über den Fall (siehe hier). Das inkriminierte Flugblatt enthielt in mehreren Sprachen lebenswichtige Entscheidungshilfen und Informationen für den Notfall einschließlich offizieller Notrufnummern. So skandalös der Vorgang an sich bereits war, wurde durch Recherchen der Zeitung Independent nun bekannt, dass das britische Innenministerium eine Art Fake-Hilfsorganisation kreiert hat, um selbst Informationen ähnlichen Inhalts an Exilierte in Nordfrankreich zu vermitteln. Unter dem Namen On the move – informing migrants in transit erweckt eine anonym ins Netz gestellte Website den Eindruck, das Portal einer gleichnamigen, in Wirklichkeit aber nicht existierenden, Hilfsorganisation zu sein, neutral über die physischen, rechtlichen und frauenspezifischen Risiken einer undokumentierten Migration nach Großbritannien aufzuklären und gegebenfalls Hilfe zu bieten. Im Gegensatz zu den inkriminierten Flugblättern der realen Hilforganisationen geschieht dies allerdings mit dem Ziel der Abschreckung, unter Einsatz von Falschinformationen und obendrein unter Verzicht auf die so wichtigen Notrufnummern für den Fall des Falles. Hinweise auf das britische Innenministerium oder andere Behörden fehlten bei einer Sichtung der Webseite am gestrigen 1. August weiterhin völlig.
Wie die Independent-Journalistin Lizzie Dearden schreibt, wurde die Website On the move „im April 2020 eingerichtet, wobei ein privates Registrierungstool verwendet wurde, das die persönlichen Daten der Eigentümer verbirgt. Sie lädt Asylsuchende ein, On The Move eine E-Mail mit Fragen zu schicken, ohne zu wissen, dass sie sich an die britische Regierung wenden würden.“
Außerdem schreibt das Blatt: „Die Website wurde im Rahmen einer Kampagne erstellt, mit der das Innenministerium ‚Migranten in Frankreich und Belgien davon abhalten wollte, irregulär in das Vereinigte Königreich einzureisen‘. Eine Anfrage der Nachrichtenagentur PA zur Informationsfreiheit ergab, dass das Innenministerium zwischen Dezember und April £23.200 für gezielte Anzeigen auf Facebook und Instagram in Englisch, Kurdisch, Arabisch, Persisch und Paschtu gezahlt hat, die alle mit der On The Move-Website verlinkt waren und Slogans wie ‚Bringen Sie Ihr Leben oder das Ihres Kindes nicht in Gefahr‘, ‚Wir werden Sie zurückbringen‘ und ‚Es gibt kein Versteck‘ enthielten.“
Nach Angaben des Independent wies die Website mehrere falsche und irreführende Informationen auf: So wird behauptet, Großbritannien schickte „regelmäßig Menschen zurück, die über irreguläre Routen eingereist sind.“ Seit dem Vollzug des Brexit zum Jahreswechsel 2020/21 ist dies jedoch nicht mehr der Fall – im Gegenteil: Großbritannien gehört seit dem Ausscheiden aus dem Rechtsraum der EU nicht mehr zum Geltungsbereich der Dublin-Vereinbarung und musste Abschiebungen in die EU daher zum Jahresbeginn einstellen. Außerdem behauptet die Website, das Steuern eines Schlauchbootes sei ein Verbrechen. Tatsächlich, so der Idependent, habe es nur wenige umstrittene Strafverfolgungen in solchen Fällen gegeben. Allerdings zielt die aktuelle Politik des Innenministeriums darauf ab, dies tatsächlich in größerem Unfang zu kriminalisieren.
Ein weiteres Beispiel: „Auf der Website gibt es eine Seite über ‚sichere und legale Alternativen‘, aber auf keiner dieser Seiten wird genau beschrieben, wie man im Vereinigten Königreich Asyl beantragen kann oder wie man Großbritannien erreicht. Stattdessen konzentriert sie sich auf Frankreich, Belgien und andere EU-Länder oder verweist Asylsuchende auf Informationen darüber, wie sie ‚freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren‘ können.“
Ergänzen ließe sich, dass Kommunikationskampagnen zur Abschreckung von Migrant_innen seit einigen Jahren Gegenstand zwischenstaatlicher Vereinbarungen Großbritanniens und Frankreichs sind. Insbesondere der am 24. Januar 2019 von den Innenministern beider Staaten unterzeichnete Joint action plan by the UK and France on combatting illegal migration involving small boats in the English Channel – die erste explizit auf die Bootspassagen bezogene Vereinbarung – hält unter Punkt 13 explizit fest: „[…] we will expand a
strategic communication campaign designed to inform migrants of the risks of illegal migration to deter them from trying to use this route.“
Der Besuch der Website beginnt grotesk: „Are you or someone you know considering travelling to the UK irregulary? Yes / No“.
Wer sich für No entscheidet, sieht sodann die Karte einer Migrationsroute von Afghanistan und Pakistan über die Türkei, die Balkanstaaten, Österreich und Deutschland nach Großbritannien – tatsächlich nur eine von mehreren zum Kanal führenden Routen. Frankreich und Belgien werden, anders als etwa Deutschland und Österreich, nicht als Transitländer farblich unterlegt, so als seien sie nicht Teil der Route oder als sei diese dort unterbrochen. Darunter werden Symbolfotos und „Learn more“-Buttons zu Risiken gezeigt. Hinzu kommen Hinweise auf „sichere und legale Alternativen“ ohne Angaben darüber, wie diese konkret realisiert werden könnten, und Aufforderungen, in Belgien oder Frankreich Asyl zu beantragen.
Wer sich für Yes entscheidet, sieht die Karte nicht, dafür jedoch gleich die Risiken in größerer Anzahl. Persönliche Ansprache mischt sich mit vermeintlichen Realitäts-Checks in Bezug auf Werbeversprechen von Schleuser_innen und den schon erwähnten Hinweisen auf legale und sichere Alternativen, die in der Praxis jedoch für die Zielgruppe der Kampagne kaum gangbar sind.
Alles in allem bestätigt eine Lektüre der Website den Eindruck des Independent: Die angeblich „free, reliable and important information“ erweist sich als Ansammlung knapper Statements ohne wirklichen Gebrauchswert. Links auf tatsächliche Hilfsangebote oder -organisationen fehlen ebenso wie jedliche Angabe zur Urheberschaft. Oft ist sogar unklar, ob sich eine Information an Nutzer_innen richtet, die Yes oder No gewählt haben. So bemüht die Gestaltung zivilgesellschaftliche oder humanitäre Organisationen imitiert, so entlarvend ist mitunter die Bebilderung:
Wer ernsthaft Informationen über die Risiken und Realitäten der Migration bereitstellen möchte, sollte besser auf das Flugblatt zurückgreifen.