Interview mit Gérard Barron, Präsident der Seenotrettungs-Brigade SNSM in Boulogne-sur-Mer
Gérard Barron ist ein pensionierter Anwalt. In Boulologne, rund 35 Kilometer südwestlich von Calais, leitet er die Filiale der Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM). In dieser Funktion bekommt er die Krise am Ärmelkanal aus nächster Nähe mit – und aus einer besonderen Perspektive. Das Interview fand Mitte Januar vor dem SNSM-Gebäude am Hafen statt.
Wie wirken sich die Passagen von Migrantenbooten an diesem Teil der Küste auf die Seenotrettung aus?
2020 hatten wir 16 shouts, letztes Jahr, 2021, dann 53. 2020 retteten wir 49 Migranten, letztes Jahr 596. Die SNSM besteht komplett aus Freiwilligen, es gibt 230 Stationen entlang der Küste. Hier in Boulogne haben wir 30 Mitglieder. Alle unsere shouts kommen über CROSS, die regionale Koordination der Seenotrettung (Centre Régional Opérationnel de Surveillance et de Sauvetage maritimes). Die Abfahrtsorte sind derzeit von Dieppe bis Dunkerque. Wir werden für Notfälle zwischen der Somme- Mündung und Wissant gerufen.
Gab es im neuen Jahr schon Notrufe?
Ja, drei oder vier. Vor drei Tagen war der letzte. Im Nebel. Unsere Leute fuhren um zwei Uhr morgens raus, waren sieben Stunden auf See. Wir haben sie nicht gefunden.
Was können Sie zu den eingesetzten Schlauchbooten sagen?
Die Boote? Rubbish! Sie werden gebaut, ach was, nicht gebaut, zusammengeklebt in China. Ich würde kein Kind damit auf einen See lassen. Sie haben nie einen ausreichend starken Motor. Ein zehn Meter langes Boot mit 50 Leuten, was im Übrigen illegal ist, denn sie sind nur für höchstens 12 Leute zugelassen, aber um überhaupt eine Chance zu haben, um gegen die Strömung anzukommen, braucht man dann mindestens einen 50 PS-Motor. Manche Boote haben aber nur 12 PS, sie haben also keine Chance. Die Strömung hat oft sechs Knoten. Wenn man da abtreibt, geht das in Richtung Belgien, Niederlande oder Skandinavien.
Wissen Sie, wie diese Boote hierher gelangen?
Die Schmuggler bekommen die Boote aus China, von dort werden sie nach Polen oder Litauen geliefert, weil sie hier vom Zoll abgegriffen würden. Von dort werden sie in Kleinbussen hierher gebracht. Zoll und Polizei stoppen viele, aber nicht genug, das können sie auch gar nicht, das ist eine unmögliche Aufgabe.
Wie beurteilen Sie die Chance, eine solche Überfahrt zu überleben?
Die meisten Passagiere der Boote können nicht schwimmen. Sie sind nicht in guter körperlicher Verfassung, nicht passend gekleidet, haben wahrscheinlich nicht genug gegessen. Die Wassertemperatur ist um diese Jahreszeit nicht höher als neun Grad. Da hat man keine Chance.
Stimmt es eigentlich, dass Boote nun auch tagsüber ablegen? [Anmerkung: Es gibt über den Winter mehrfach entsprechende Berichte, wonach Boote in See stechen, sobald die Wetterbedingungen günstiger sind. Grund sind eben die langen Wartezeiten durch zuvor schlechtes Wetter und der starke Druck durch mehr Kontrollen.]
Ja.
Bis wohin reicht Ihr Einsatzgebiet eigentlich? Operieren Sie auch in britischen Gewässern?
Natürlich fahren wir auch dorthin. Bis nach Dungeoness [Anmerkung: eine Landspitze südwestlich von Folkestone] oder Dover. Wenn man jemand retten musst, spielen Grenzen keine Rolle!
Was denken Sie über die vermeintlichen Jet-Ski-Brigaden, die Boote auf offener See zurückdrängen sollen?
(Entschlossen) Kein Kommentar!
Wird das Ihre Arbeit beeinflussen?
(Noch entschlossener) Nein! Wenn irgendwo Menschen im Wasser sind, werden wir sie rausholen!