Kategorien
Calais Corona

Keine neue Normalität

Der Jungle nach dem Lockdown

Kurz vor Beginn des Lockdown recherchierten wir in Calais. Nachdem wir nun, am 6. Juni 2020, erneut dort waren, ergibt sich ein vorläufiges Bild von den Veränderungen, die der Jungle im Verlauf der (vielleicht nur ersten) Seuchenwelle erlebt hat. Diese Veränderungen aber resultieren in erster Linie nicht aus der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung. Zwar haben sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen in den Camps während des Lockdown weiter verschlechtert und sind elementare Versorgungsstrukturen zum Teil weggebrochen. Eine viel zitierte „Neue Normalität“ aber gibt es im Jungle nicht. Vielmehr entspricht die Situation beim Abklingen der Seuche sehr genau dem vorherigen Zustand und den damals bereits erkennbaren Tendenzen.

Was die Seuche betrifft, so haben sich Befürchtungen einer raschen Ausbreitung unter den Campbewohner_innen nicht bestätigt. Außer den fünf zu Beginn der Krise festgestellten Infektions- bzw. Verdachtsfällen (siehe hier und hier) sind keine weiteren bekannt geworden. Da es jedoch keine systematische Testung der Migrant_innen gegeben hat und auch Personen mit verdächtigen Symptomen nur oberflächlich untersucht wurden, sind unentdeckte Infektions- oder Krankheitsfälle nicht auszuschließen, sodass ein gewisses Dunkelfeld bleibt. Eine größere Ausbreitung der Seuche im Jungle bleibt daher denkbar, ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Ebenso wenig haben die im April auf freiwilliger Basis durchgeführten Evakuierungen den Jungle nachhaltig verändert, denn nur eine Minderheit der Migrant_innen hat davon Gebrauch gemacht und viele sind bereits nach kurzer Zeit wieder zurückgekehrt.

Auch die mindestens alle 48 Stunden stattfindenden zwangsweisen Räumungen (siehe hier, hier und hier) haben die gesamte Phase des Lockdown über angedauert und finden nach wir vor statt, was bedeutet, dass die Bewohner_innen alle ein oder zwei Tage ihre Zelte und ihren Besitz zusammenpacken und in Sicherheit bringen müssen, um dann nach ein paar Stunden an die gleiche Stelle zurückzukehren.

Der Jungle (sowie einige kleinere Camps) wird heute von ungefähr so vielen Menschen bewohnt wie zu Beginn der Seuche, nämlich etwa 1.000. Ihre Herkunftsländer sind die gleiche geblieben wie in den vergangenen Jahren: Afghanistan, Pakistan, Sudan, Eritrea, Äthiopien, Iran und einige andere Staaten. Nach wie vor versuchen diese Menschen vor allem, durch das Verstecken in Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen, und versuchen es so lange, bis es gelingt, bis sich eine Alternative ergibt oder bis sie aufgeben. Um einen Stau zu erzeugen, der sich dann für einen solchen Versuch nutzen lässt, wurde in der Vergangenheit immer wieder die nahe gelegene Zubringerautobahn zum Fährhafen blockiert. Einem lokalen Pressebericht zufolge geschah dies zuletzt in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni, als zunächst etwa 50 Personen mit verschiedenen Materialien auf die Autobahn zu gelangen versucht und im weiteren Verlauf etwa 30 Leute an einer anderen Stelle eine Barrikade errichtet hätten. Das riskante Anhalten des Verkehrs gehört zu den Techniken derjenigen, die nicht die finanziellen Mittel für eine professionelle Schleusung per Boot oder Lkw aufbringen können. Neben Neuankämmlingen sind es weiterhin vor allem diese mittellosen Menschen, die sich in Calais sammeln.

Allerdings hat sich der Jungle selbst verändert. Denn er erstreckt sich heute über eine kleinere Fläche als zu Jahresbeginn, ist dichter besiedelt und nutzt ein Gelände, das selbst für Calaiser Verhältnisse kaum für ein Camp geeignet ist. Dies ist die offensichtlichste und wahrscheinlich auch einschneidenste Veränderung der vergangenen Monate.

Um diese Veränderung zu verstehen, müssen wir uns die Geographie des Jungle vergegenwärtigen: Im Verlauf des Jahres 2019 als Agglomeration mehrerer Camps im Industriegebiets Zone Industrielle des Dunes entstanden, erstreckte er sich zu Beginn des Lockdown entlang dreier Straßen: Der Route de Gravelines, der Rue des Huttes und der Rue des Garennes. Entlang der Route de Gravelines befanden sich die Zelte in einem schmalen, aber etwa 1,2 Kilometer langen Wald- und Gebüschstreifen, der zwischen Dezember und Februar vollständig mit einem massiven Metallzaun umgeben, jedoch zunächst nicht geräumt wurde, so dass die Migrant_innen wie Tiere in einem Gehege wirkten, das nur durch einige wenige Tore betreten oder verlassen werden konnte. Von der Route de Gravelines abzweigend, erstreckten sich weitere Camps beiderseits der Rue des Huttes, einer kleinen Seitenstraße, hin zur Rue des Garennes. Diese bildet die Zentralachse des Industriegebiets, doch ist das Gelände hier besonders ungünstig und nur wenige Camps erstreckten sich daher in diesen Bereich. An der Rue des Huttes befand sich außerdem ein Areal, auf dem die Hilfsorganisation La vie active im staatlichen Auftrag Wasser, Frühstück, warme Mahlzeiten sowie Zugang zu Strom und Sanitäranlagen anbot. Die Existenz dieser Infrastruktur war ein wesentlicher Grund für die Verdichtung der Camps in diesem Gebiet.

Bei unserem Besuch am 6. Juni 2020 existierten die Camps im Waldstreifen entlang der Route de Gravelines nicht mehr. Das am 12. Mai geräumte Gebiet (siehe hier) hinter den Zäunen ist nun verschlossen und Hinweistafeln der Stadt Calais kündigen die Pflanzung von 100 regionaltypischen Bäumen an, als ginge es an diesem exponierten migrationspolitischen Ort um Natur.

Stattdessen stehen die Zelte nun dichter als früher zu beiden Seiten der Rue des Huttes, wo sie buchstäblich bis an die Fahrbahn heranreichen, die ihrerseits zu einer Art belebtem Zentralplatz inmitten des Jungle geworden ist. Wo das Gelände es zulässt, reichen die Camps weit in die Brach- und Gebüschflächen zwischen einigen Gewerbebetrieben hinein. Das Areal von La vie active ist aufgrund er Corona-Schutzmaßnahmen noch nicht wieder zu betreten. Stattdessen warteten, als wir dort waren, Dutzende Menschen in einer langen Schlange am Straßenrand auf die Ausgabe von Lunchpaketen, während andere Wasser in Kanistern holten. Unabhängige zivilgesellschaftliche Verteilungen von Lebensmitteln und Brennholz fanden ebenfalls statt, folgten aber einer anderen Logik: Nicht die Migrant_innen sollen in einer Schlange anstehen, sondern die Güter werden in die Camps gebracht und dort möglichst egalitär verteilt.

Gleichzeitig haben sich die Camps viel stärker als zu Jahresbeginn an der Rue des Garennes ausgedehnt. Sie befinden sich auf den Asphalt-, Beton- und Schotterflächen mehrerer stillgelegter Tankstellen, eines Eisenbahngleises und anderer Anlagen. Einige Ausläufer erreichen inzwischen eine weitere Straße, die Rue des Mouettes.

Eine unverändert große Zahl von Menschen siedelt nun also auf einem verkleinerten Gebiet oder weicht auf extrem ungünstiges Gelände aus: Gab es im nun leeren Waldstreifen beispielsweise die Möglichkeit, das Zelt im Boden zu fixieren, eine Plane als Wetterschutz an den Bäumen zu befestigen oder Vorräte zum Schutz vor Ratten in Plastikbeuteln an Ästen aufzuhängen, ist dies auf den beschriebenen Böden kaum möglich.

Diese Entwicklung resultiert nicht aus der Pandemie, sondern aus einer Strategie der Raumverschließung. Seit 2017 kommt es (neben den alltäglichen Räumungen mit anschließendem Wiederaufbau) auch zu Polizeieinsätzen, bei denen ein Grundstück endgültig versperrt und mit massiven Metallzäunen immer gleicher Bauart dauerhaft gesichert wird. Rechtliche Grundlage ist in der Regel ein gerichtlich erwirkter Räumungstitel. Nach und nach wird die Zone des Dunes damit von einer Zaunarchitektur überzogen, die vor drei Jahren buchstäblich mit fragmentarisch in der Landstaft stehenden Zaunabschnitten und Toranlagen begann und sich allmählich zu einer zusammenhängenden Struktur fügt. Die von Dezember 2019 bis Februar 2020 vorgenomene Einzäunung des Waldstreifens an der Route de Gravelines ist der bislang größte zusammenhängende Teil dieser dieser Struktur. Unser Begleiter, ein erfahrener Flüchtlingshelfer, meinte sarkastisch, dass es vielleicht das Beste sei, nicht mehr nur Lebensmittel zu verteilen, sondern auch Bolzenschneider.