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Zur Illegalität der Räumungen

Sonderberichterstatterin der UN und Refugee Rights Europe zur Menschenrechtslage

Wir berichteten in diesem Blog wiederholt über exzessive Räumungen von Camps, deren Bewohner_innen in aller Regel keine alternative Unterbringung geboten wird. Um die Illegalität dieser Praxis besser zu verstehen, helfen zwei Berichte, die im März und April 2020 veröffentlicht wurden. Verfasst wurden sie zum einen von der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für das Recht auf Wohnen, Leilani Farha, und zum anderen von der zivilgesellschaftlichen Organisation Refugee Rights Europe, letzterer in Zusammenarbeit mit den lokal tätigen Initiativen Help Refugees und Human Rights Observers. Beide Berichte machen deutlich, wie eklatant das Vorgehen der französischen Behörden sowohl gegen internationales wie nationales Recht verstößt.

Der Bericht der UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen

Leilani Farha bereiste Frankreich vom 2. bis 12. April 2019, bezog jedoch auch spätere Ereignisse ein und veröffentlichte ihren Bericht am 3. März 2020. Er ist nicht speziell der Situation der Migrant_innen auf dem Weg nach Großbritannien gewidmet, vielmehr untersucht er, wie die Standards des internationalen Rechts zu menschenwürdigem Wohnen in Frankreich umgesetzt und Defizite behoben würden. Es geht also insgesamt um den Zugang vor allem der ärmeren und marginalisierten Teile der Gesellschaft zu Wohnraum sowie insbesondere um die Situation obdachloser und reisender Menschen.

Gestützt auf Daten der französischen Regierung, skizziert Farha zunächst die Dimension des Problems: „16,090 persons live in 497 informal settlements. […] More than one quarter of the residents are children.“ (S. 9). Farha schätzt: „Less than 5 percent of all persons evicted are relocated to new long-term housing options in compliance with international rights standards.“ (S. 10) In über 95 % aller Fälle – nicht nur in Calais, nicht nur von Migrant_innen – erfolgt die Räumung demnach in die Obdachlosigkeit.

Genau solche Räumungen in die Obdachlosigkeit aber seien nach internationalem Recht strikt ausgeschlossen und stellten einen ernsthaften Verstoß gegen die Menschenrechte dar (ebd.). Vielmehr seien Räumungen nur dann zu rechtfertigen, wenn den Betroffenen nach vorheriger Darlegung aller Alternativen eine angemessene Unterbringung angeboten werde. Seit 1954 gelte in Frankreich außerdem ein Moratorium in Bezug auf Räumungen im Winter – was die Räumung von über 1.800 Personen allein im Winter 2017/18 jedoch nicht verhindert habe. Seit 2017 sei bei Räumungen außerdem ein vorheriger Gerichtsbeschluss erforderlich.

Wie nun bewertet der Bericht vor diesem Hintergrund die Situation in Calais und Grande-Synthe sowie die migrantischen Camps bei Paris?

Farha schreibt hierzu: „The Special Rapporteur notes the particular challenges authorities face in responding to migrants that are in the region with the aim to secure passage to the United Kingdom. Nonetheless she wishes to underline that the rigt to adequate housing and the protection against forced evictions must be extended to all, including migrants.“ (S. 13)

Mit nur ein wenig diplomatischer Zurückhaltung formuliert, ist dies eine klare Aussage. Die von der Regierung verfolgten Taktiken hätten, so Farha weiter, „led to a vicious cycle of forced evictions, increased homelessness and short-term encampments in places like Calais […]. While the government utilizes these tactics to deter the growth of informal settlements, they are making already completely unacceptable living conditions even worse.“ (ebd.)

Die Regierung flankiert und rechtfertigt die Räumungspolitik seit 2016 damit, dass die Migrant_innen in Aufnahmezentren untergebracht werden könnten, die allerdings außerhalb der Grenzregion liegen. Auch dieses Verfahren erfülle, so Farha, internationale menschenrechtliche Anforderungen nicht: „Migrants and asylum seekers evicted from their encampments in Calais are normally only offered accomodations in receiption centres located more than 75 km away from Calais, while international human rights standards require relocation in proximity to the site of eviction. The systematic nature of repreated exictions by police forces is a source of extreme stress, anxiety and sleep deprivation – on an already traumatized population.“ (S. 14).

„Informal settlements inhabited by Roma, migrants and other groups in vulnerable situations, are often denied basic services and regularly subjected to forced evictions in violation of human rights standards. Homelessness is increasing at a significant pace and there are too few emergency shelters and longer-term housing options for this population. Refugees and migrants live in some of the most egregious conditions. There is a lack of units for independent living for persons with disabilities. The report concludes with a call for immediate action and several recommendations to ensure that the human right to adequate housing is fully enjoyed by all.

Quelle: Visit to France. Report of the Special Rapporteur on adequate housing as a component of the right to an adequate standard of living and to non-discrimination in that context, 3. März 2020, S. 1 (Summary)

Alles in allem seien die Praktiken, die im Bericht geschildert werden, „a gross violation of the right to adequate housing and other human rights, such as the rights to water, sanitation, health, food, and to physical integrity. The systematic and repeated nature of these forced evictions suggest they also constitute cruel, inhuman or degrading treatment of one of the most vulnerable populations in France.“ (S. 14) Um dem zu begegnen, schlägt die Sonderberichterstatterin unter anderem ein Moratorium für alle Zwangsräumungen informeller Ansiedlungen und Camps vor, so wie auch der Zugang zu nahegelegenen menschenwürdigen Unterkünften unabhängig vom Migrationsstatus gelten müsse (S. 18f).

Was hier sehr deutlich benannt wird, ist der systematische und kontinuierliche Charakter der Nichtbeachtung internationaler menschenrechtlicher Standards (und zumindest teilweise auch nationalen Rechts).

Der Bericht von Refugee Rights Europe

Über das Ausmaß dessen gibt der zweite Bericht Auskunft, der von der britischen Initiative Refugee Rights Europe gemeinsam mit lokal tätigen Gruppen erstellt wurde. Die Initiative gründete sich wie viele andere solidarische Gruppen (etwa Utopia 56 und Care4Calais) angesichts des bisher größten Jungle von Calais mit zeitweise 10.000 Einwohner_innen in den Jahren 2015/16. Ihr Projekt bestand in der Bereitstellung empirischer Daten über die prekäre Situation der Migrant_innen, die in regelmäßigen Abständen durch Befragungen ermittelt wird. Der nun vorgelegte neue Bericht ergänzt dies mit einer Chronologie der Menschenrechtslage in Nordfrankreich für den Zeitraum von 1991 bis April 2020, wobei er sich vor allem auf Daten lokaler Initiativen und Medien sowie eigene Beobachtungen stützt.

Betrachten wir allein die letzten 12 Berichtsmonate, so fiel in diesen Zeitraum: ein Gerichtsurteil über die Unrechtmäßigkeit einer Räumung in Grande Synthe (März 2019), ein Bericht von Amnesty International über die Behinderung humanitärer Arbeit (Juni 2019), die Verpflichtung der Behörden zur Bereitstellung des Zugangs zu Wasser, Hygiene und Sanitäranlagen durch den Staatsrat, also das oberste französische Gericht (Juni 2019), die Veröffentlichung der Zahl von 803 dokumentierten Räumungen seit August 2018 (Juni 2019), die Räumung einer Notunterkunft und eines Camps mit insgesamt etwa 1000 Bewohner_innen nach gerichtlicher Erlaubnis in Grande-Synthe (September 2019, mit anschließender Neuentstehung diverser Camps), die versuchte Verbannung der Essensausgaben durch die Bürgermeisterin von Calais (Oktober 2019, später gerichtlich aufgehoben), die Beantragung einer parlamentarischen Untersuchung der Situation der Geflüchteten in Calais durch namhafte Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen (Dezember 2019), die teilweise Einzäunung des Jungle von Calais (Dezember 2019), das Nichteröffnung einer in den Vorfahren eingerichteten Notunterkunft für Frostnächte (Winter 2019/20), die Veröffentlichung der Zahl von 961 Räumungen in Calais und 142 in Grande-Synthe im Jahr 2019 (Jahresende), die Intervention des Refugee Women‘s Centre beim französischen Innenminister, nachdem in Calais und Grande-Synthe die schlechtesten Lebensbedingungen der vergangenen Jahre festgestellt worden waren (Februar 2020), die Bereitstellung einer Notunterkunft während der Orkanphase in Grande-Synthe für die Dauer von drei Tagen (Februar 2020) und die abermalige Verschlechterung nach dem Beginn der Corona-Krise (März/April 2020).

Auch der Bericht von Refugee Rights Europe schlägt konkrete Maßnahmen auf der Grundlage eines gewaltfreien Ansatzes vor.

Aus Sicht der Initiative gehören dazu die Anwendung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 17 und 18 der Dublin-III-Verordnung durch Großbritannien (was für die betroffenen Menschen Zugang zum britischen Asylrecht bedeuten würde), der unmittelbare Transfer besonders vulnerabler Personen nach Großbritannien, die Schaffung menschenwürdiger Unterkünfte dort, wo die Menschen präsent sind, das Ende der Behinderung humanitärer Hilfe und nicht zuletzt: „All evictions from camps must stop immediately“ (S. 37).