Seit 2020 galt in Calais fast ununterbrochen ein Verbot kostenloser Wasser- und Nahrungsverteilungen an Exilierte, sofern diese Hilfe in bestimmten Teilen der Stadt und ohne staatlichen Auftrag erfolgte. Faktisch war es unabhängigen Organisationen damit untersagt, lebenswichtige Hilfe dort zu leisten, wo sie gebraucht wird: bei den Camps. Eine Klage der betroffenen Organisationen hatte nun Erfolg: Das Verwaltungsgericht in Lille hob die Verbotsverfügungen der Präfektur auf. Die Solidaritätsbewegung hat auf einem wichtigen juristischen Konfliktfeld damit einen Sieg errungen.
Das Verbot erfolgte erstmals am 10. September 2020, nachdem sich der damalige Innenminister Gérald mit der Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart auf diese politische Linie verständigt hatte (siehe hier). Zunächst auf wenige Wochen befristet, wurde das Verbot in den folgenden beiden Jahren immer wieder verlängert. Nach einer Unterbrechung kehrte der neue Präfekt Jacques Billant am 12. August 2022 zur Politik der Hilfsverbote zurück.
Die Behörden legitimierten das Verbot der kostenlosen Wasser- und Nahrungsverteilung, indem sie selbst eine kleine Zahl von Wasserstellen einrichteten und Partnerorganisationen mit Hilfen beauftragten. Diese staatlichen Hilfen blieben jedoch rudimentär, erfüllten humanitäre Mindestandards nicht und trugen dazu bei, einen Zustand der Mangelversorgung zu verfestigen. Sie erschwerten den Zugang der Exilierten zu lebenswichtigen Resssourcen, indem sie solidarische Organisationen daran hinderten, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Diese Politik war von Anfang an infam, den sie setzte bewusst an der Verwundbarkeit der betroffenen Menschen an. Mehrfach wurden während der heißen Sommermonate 2021 und 2022 Trinkwassertanks entfernt oder zerstört, die am Rand von Camps aufgestellt worden waren.
Nach dem neuerlichen Verbot durch den Präfekten klagten dreizehn Organisationen* vor dem Verwaltungsgericht in Lille; die Anhörung fand am 20. Sepeember 2022 statt.
In seinem Beschluss vom 12. Oktober 2022 hob das Verwaltungsgericht nun drei Verbotsverfügungen auf. Wie die Kläger_innen in einer Presseerklärung mitteilten, betrifft die der Gerichtsbeschluss „die Erlasse für den Zeitraum vom 1. Oktober bis zum 12. Januar 2020, die bis September 2022 fast jeden Monat verlängert wurden. Durch sie werden täglich zwischen 300 und 1500 an der Grenze festsitzende Exilierte ins Visier genommen, darunter unbegleitete Minderjährige, Familien, alleinstehende Frauen und alleinstehende Männer in besonders prekären Situationen.“ Die meisten informellen Lebensorte von Exilierten in Calais werden, so die Organisationen, „von den staatlichen Behörden vernachlässigt“. Der „Zugang zu Wasser und Nahrung wird nur durch das Engagement unabhängiger Strukturen ermöglicht, die trotz begrenzter Ressourcen und zunehmender Repression handeln.“
Der Rechtsanwalt Patrice Spinosi, der die klagenden Organsiationen vertrat, wertete den Gerichtsbeschluss als wichtigen Präzedenzfall. Das Gericht erkennt explizit an, dass „die vom Staat gewährleisteten Verteilungen quantitativ unzureichend sind“, und zwar unabhängig von der Anzahl der betroffenen Personen. Nach Ansicht des Gerichts besteht die Wirkung der Verbote lediglich darin, „die Möglichkeit für diese prekären Bevölkerungsgruppen, in angemessener Entfernung von ihren Lebensorten in einer mit ihren prekären Lebensbedingungen vereinbaren Weise Zugang zu lebensnotwendigen Gütern zu erhalten, erheblich zu erschweren.“
Die Organisationen werten die Gerichtsentscheidung als großen Erfolg: „Dieser Sieg ist sehr wichtig für all das, wofür diese Verfügungen in Calais standen: die Behinderung der Solidarität, die Verhinderung eines minimalen Zugangs zu Recht und zu grundlegenden Dienstleistungen für exilierte Menschen sowie ihre Kriminalisierung und die ihrer Verbündeten.“ – „Das Gericht entschied für die Solidarität“, kommentierte Utopia 56.
Die Organisationen weisen jedoch auch darauf hin, dass die Verbote nicht die einzige Behinderung ihrer Arbeit on the gound darstellten. „Zwischen Januar und August 2022 hat Human Rights Observers 215 Fälle der Einschüchterung von solidarischen Akteuren in Calais durch die Behörden dokumentiert, darunter Zwangsräumungen von Lebensorten der Freiwilligen, Identitätskontrollen, Fahrzeugdurchsuchungen und Aufforderungen, die Verteilung zu stoppen.“ Hinzu kommen Bußgelder gegen Freiwillige der Organisationenaus in großem Umfang. Allein gegen Friwillige des Calais Food Collective seien seit Jahresbeginn Knöllchen in Höhe von mehr als 1.500 € erteilt worden.
Neben Verstößen gegen das Verbot der Nahrungs- und Wasserverteilung nutzen die Behörden vor allem Verstöße gegen Parkverbote (die im Umfeld der Camps großzügig eingerichtet wurden) und die Corona-Beschränkungen als Vorwand, systematisch Bußgelder gegen eine große Zahl von Personen zu verhängen. Die Instrumentalisierung der Corona-Beschränkungen wurde jüngst durch ein Gericht als rechtswidrig gewertet. Bis dahin waren gegen Angehörige von Utopia 56 und Human Rights Observers Corona-Bußgelder in einer Gesamthöhe von rund 20.000 € verhängt worden (siehe hier).
Die Verbote haben nie verhindern können, dass Wasser und Nahrung verteilt wurden, wenn auch unter ungünstigen Bedingungen. Wie sich der Gerichtsbeschluss nun konkret auswirken wird, bleibt abzuwarten. Eine Woche nach dem Gerichtsbeschluss teilte das Calais Food Collective mit, „dass unsere Freiwilligen trotz dieses Sieges […] bei der Verteilung von Lebensmitteln in der Innenstadt von Calais von der Polizei gestoppt wurden. Leider schert sich die Polizei nicht um die Einhaltung des Gesetzes.“
Anmerkung:
* Auberge des migrants, Calais Food Collective, Collective Aid, Fondation Abbé Pierre, Human Rights Observers, Ligue des Droits de l’Homme, Refugee Info Bus, Refugee Women Centre, Salam Nord/Pas-de-Calais, Secours Catholique Pas-de-Calais, Solidarités International, Syndicat de la Magistrature, Utopia 56