Nach den massiven Räumungen ab dem 10. Juli (siehe hier) versuchen die betroffenen Menschen, einen Platz zu finden, an dem sie sich aufhalten und schlafen können. Ihre Situation bleibt in höchstem Maße prekär.
„In den letzten zehn Tagen sind die Migranten viel durch die Stadt gezogen“, beschrieb die Lokalzeitung La Voix du Nord die Situation am 21. Juli. Zu diesem Zeitpunkt war ein Camp in der Nähe der Calypso-Sporthalle, in das Geflüchtete vor allem aus afrikanischen Ländern zunächst ausgewichen waren, bereits wieder geräumt worden. Dabei seien, so die Zeitung, 89 Menschen in Aufnahmezentren gebracht worden. Die übrigen seien an den Rand der Route de Gravelines und in den in der Nähe gelegenen Dubrulle-Wald ausgewichen. Diese beiden Orte befinden sich am Rand des Industriegebiets Zone des Dunes, wo in der Vorwoche die massivsten Räumungen stattgefunden hatten.
Die Route de Gravelines wurde vor einem halben Jahr durch einen massiven Zaun von den Gebüsch-, Wald- und Brachflächen abgetrennt, auf denen sich damals die meisten Camps befanden (siehe hier). Der Dubrulle-Wald hatte in den vergangenen beiden Jahrzehnten mehrfach als ein durch die Vegetation geschützter Standort für Camps gedient. Sehr wahrscheinlich hatte sich hier in den 2000er Jahren die vielzitierte Bezeichnung Jungle von Calais, abgeleitet vom paschtunischen Wort djangal / dzangal für einen Wald oder ein Gebüsch, gebildet. Insofern ist der Dubrulle-Wald ein symbolbeladener Ort.
Dies gilt noch stärker für einen weiteren Ort: Am 21. Juli versuchten die Geflüchteten dem gleichen Zeitungsbericht zufolge, „sich am Rande des alten ‚Jungle‘ niederzulassen“. Gemeint ist damit wahrscheinlich die seit 2016 brach liegende nördliche Hälfte der Hütten-, Zelt- und Containersiedlung, die damals international zum Inbegriff des „Dschungel von Calais“ und einem Symbol der europäischen „Flüchtlingskrise“ geworden war. Auch dieses öde und toxisch kontaminierte Areal befindet sich an der Route de Gravelines, ist aber durch die Zubringerautobahn zum Fährhafen von der Zone des Dunes getrennt. Der Versuch, sich dort niederzulassen, endete jedenfalls rasch. Bereits am Nachmittag des 21. Juli habe die Polizeieinheit CRS interveniert und die Geflüchteten aufgefordert, das Gelände zu verlassen. „Um wohin zu gehen? Zone des Dunes? Dubrulle-Wald? Der Sommer verspricht in Calais ereignisreich zu werden“, kommentiert La Voix du Nord.
Insgesamt befänden sich nach Angabe der Polizei etwa 650 Migrant_innen informell in Calais, so die Zeitung in einem weiteren Artikel vom gleichen Tag. Eine leicht höhere Zahl hatten die Behörden auch vor der Räumungswelle angegeben, während lokale zivilgesellschaftlichen Organisationen von weit mehr als 1.000 Menschen sprachen. Auch jetzt ist daher von einer größeren Zahl auszugehen. Breiten Raum räumte das Blatt außerdem den Statements von Anwohner_innen der Route de Gravelines ein, die u.a. über alltägliche Belästigungen, Ängste, einzelne Zwischenfälle und Wertverluste ihrer Immobilien klagten und den kommunalen Behörden Untätigkeit seit mehr als zehn Jahren vorwarfen.
Was sich in all dem zeigt, ist eine Politik der Abschreckung durch Verelendung, die wiederum durch Raumentzug bewirkt wird – aber nicht funktioniert. Dies wird deutlich, wenn man sich die historische und geographische Situation vor Augen führt. Denn der Dubrulle-Wald, die Zone des Dunes und das 2016 geräumte Jungle-Gelände bilden einen zusammenhängenden Raum, in dem sich seit den späten 1990er Jahren ein Großteil des Calaiser Migrationsgeschehens abspielt. Immer dann, wenn sich die Geflüchteten aus Sicht der Behörden zu sehr in der Innenstadt zeigten, sich dort aufhielten, versteckten (wie zuletzt 2017) oder gar Camps aufbauten (wie 2013/14), wurden sie vor allem in dieses Gebiet verdrängt, teils sogar mit erheblichem organistorischem und finanziellem Aufwand. Dieses Gebiet war daher nie nur der von Migrant_innen widerrechtlich besetzte Raum, als der er oft dargestellt wurde, sondern zugleich genau die Zone, in der man am ehesten bereit war, sie zu tolerieren – wenn auch unter permanentem Druck und an hin und wieder wechselnden Standorten. Der Migrationsforscher Michel Agier und andere Beobachter_innen haben diese Praxis bereits vor Jahren präzise analysiert. Auch die am 10./11. Juli geräumten Camps waren Teil dieses Komplexes, denn auch sie hatten sich um eine (und zwar die einzige) staatliche Stelle zur Verteilung von Mahlzeiten gebildet, die an der Rue des Huttes in möglichst großer Distanz zum Stadtzentrum platziert worden war. Gleichzeitig aber werden die Grundstücke, auf denen sich Camps bilden, seit einiger Zeit systematisch geräumt und umzäunt. Hierdurch entsteht eine paradoxe Situation: Das Gebiet, in das man die Migrant_innen verdrängt, wird so umgebaut, das sie dort immer weniger leben können. Es wird also eine Art unmöglicher Lebensraum produziert, der in der Praxis aber nie ganz funktioniert, denn aufgrund der Größe des Gebiets verbleiben stets Restflächen, auf denen sich neue Camps bilden können, wenn auch, wie zur Zeit, in einer noch unsichereren Weise. Genau ein solcher Abwärtsschritt ist mit der Räumungswlle eingetreten, und es ist möglich, dass sich das Leben der Migrant_innen nun für längere Zeit in einem Zustand des erzwungenen Herumstreifens vollziehen wird: Um wohin zu gehen? Zone des Dunes? Dubrulle-Wald?
In struktureller Gewalt gefangen, scheint jegliche Migrationspolitik hier, in der Zone des Dunes, im Zustand ihres Scheiterns eingeforen zu sein.