Im Jahr 2024 retteten französische Einsatzkräfte über 6.300 Exilierte aus Seenot, wie aus dem nun vorgelegten Jahresbericht der Seepräfektur hervorgeht. Zugleich unterstreicht der Bericht, dass noch nie so viele Migrant_innen ihr Leben verloren wie 2024. Die Behörde benennt hierfür im Wesentlichen dieselben Faktoren wie die im Küstengebiet tätigen NGOs.
Die Seepräfektur für den Ärmelkanal und die Nordsee (Préfecture maritime de la Manche et de la mer du Nord; kurz: Premar) ist als staatliche Behörde zuständig für den 870 Kilometer langen Küstenabschnitt von der belgischen Grenze bis zu den französischen Gewässern rund um die britischen Kanalinseln. Über ihre beiden Leitstellen CROSS Gris-Nez im Osten und CROSS Jobourg im Westen leitet sie u.a. sämtliche Rettungsoperationen auf See und aus der Luft, gleich ob dabei auf zivile oder militärische Ressourcen zurückgegriffen wird. Die Ablegestellen der Schlauchboote befinden sich im Bereich des CROSS Griz-Nez.
Im Jahr 2024 führte CROSS Gris-Nez 1.279 Operationen auf See durch, von denen 1.074 mit Such- und Rettungsaktionen einhergingen. Die Operationen betrafen 46.330 Personen, darunter 45.203 Migrant_innen. Zum Vergleich: Im Einsatzgebiet von CROSS Jobourg lag die Gesamtzahl der Operationen mit 1.314 etwas höher, aber nur in 486 Fällen kam es zu Such- und Rettungsaktionen und nur 3.680 Personen waren betroffen.
Von den 1.279 Operationen im Gebiet von CROSS Gris-Nez standen 830 im Zusammenhang mit der Migration nach Großbritannien. Dabei retteten die französischen Einsatzkräfte 6.310 Migrant_innen, während die übrigen ihre Fahrt nach Großbritannien fortsetzten und dabei durch die Leitstelle überwacht wurden. Innerhalb der französischen Search and Rescue Zone registrierte Premar 72 Todes- und drei Vermisstenfälle. Während die Zahl der Todesfälle nicht im Widerspruch zur Zählung durch NGOs und Medien steht (siehe hier), dürften wesentlich mehr Exilierte auf See vermisst und mit großer Wahrscheinlichkeit gestorben sein. Hierauf lassen Angaben schließen, die gerettete Bootspassagier_innen an Land gegenüber Polizei/Gendarmerie oder NGOs machen. Doch gehen diese Angaben nicht systematisch in die Statistik der Seepräfektur ein.

Die von Premar vorgelegten Zahlen spiegeln auch langfristige Entwicklungen. So lässt sich die von Jahr zu Jahr stärkere Frequentierung der Kanalroute in den Anfangsjahren ab 2018 gut nachvollziehen. Auch fällt auf, dass die Zahl der Operationen auf See in den Jahren 2021 (1.360 Operationen) und 2022 (1.304 Operationen) wesentlich höher lag als in den Folgejahren. Dasselbe gilt für die Anzahl der betroffenen Personen, die 2022 mit 51.870 Personen ihr Maximun aufweist, und der Geretteten, die 2021 mit 8.609 am höchsten lag. Das Jahr 2022 war auch dasjenige, in dem die meisten Bootspassagen überhaupt registriert wurden; nach britischen Angaben erreichten in jenem Jahr 45.755 Exilierte britisches Hoheitsgebiet per Schlauchboot. Dessen ungeachtet aber nahm die durchschnittliche Zahl der Personen pro Rettungsoperation von Jahr zu Jahr zu: Lag sie 2020 bei elf, stieg sie 2021 auf 27, 2022 auf 40, 2023 auf 45 und 2024 auf 54. Dies entspricht dem Anstieg der Passagierzahlen pro Boot, der sich aus Daten der britischen Küstenwache errechnen lässt und von lokalen NGOs bei ihrer täglichen Arbeit an der Küste beobachtet wird (siehe hier).

Der Bericht der Seepräfektur macht deutlich, dass mit dem außergewöhnlichen Anstieg der Todesfälle nun eine nie dagewesene Situation entstanden ist. Hierfür sieht er mehrere im Jahr 2024 prägende Faktoren.
An erster Stelle nennt er die „Entschlossenheit [der Migranten], das Vereinigte Königreich zu erreichen, was dazu führte, dass Schleuser und Migranten die von den französischen Rettungskräften angebotene Hilfe nur als letzte Möglichkeit annahmen, wenn sie mit einer extremen Notsituation konfrontiert waren“. An zweiter Stelle verweist Premar auf den schon genannten Anstieg der Personenzahl pro Boot von 45 (2023) auf 54 (2024). Hieraus resultiere einerseits „ein Anstieg der Havarien, von denen die meisten überladenbe Boote betreffen“, und andererseit „ein Anstieg der Todesfälle an Bord von Booten (ohne Havarie) aufgrund von Ersticken durch Quetschung, was in direktem Zusammenhang mit der Überladung steht“. Einen weiteren Grund für die Zunahme der Todesfälle sieht Premar in der „Ausdehnung der Abfahrtsgebiete nach Süden bis nach Dieppe, wodurch sich die Überfahrtszeiten automatisch verlängern und die Migranten länger den äußeren Einflüssen sowie den Folgen der Überladung ausgesetzt sind“. Schließlich verweist die Behörde auf „die Phasen des Anbordgehens und/oder der Rückkehr an den Strand“. Diese seien „besonders gefährlich und oft chaotisch, was zu Unterkühlung und sogar Ertrinken und/oder Ersticken führt“.
Lokale NGOs und Medien benennen im wesentlichen dieselben Faktoren. Allerdings verweisen sie auch darauf, dass diese u.a. mit einer verschärften Überwachung der Ablegestellen, des Küstenhinterlandes und der Lieferwege der Boote zusammenhängen. Der Schlüssel zur Entschärfung der Situation, an deren Brutalität der Bericht der Seepräfektur keinen Zweifel lässt, wäre eine Entschärfung der Migrationspolitik.